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Der Singestein bei Postelwitz

  "Ueber Berg und Thal". 2. Ihrg. S. 108. 
  Gräße, 2. Aufl. Bd. I. S. 153. 
  Romantisch bearb. v. Gottschalk, Deutsche Volksmärchen, Leipzig 1845. Teil I. S. 153-162.

Da ist in alter Zeit ein Hirt herauf von Pirna mit seiner Herde bis Krippen getrieben. Krippen gegenüber erblickt er ein schönes Mädchen, das ihre Ziegen weidet. Sehnsüchtig schaut er zu ihr hinüber; er bläst seine Schalmei, und sie drüben singt mit lieblicher Stimme ein Lied dazu. Dann aber winkt ihm die Jungfrau und zeigt auf den nahen Felsen. Als es nun Abend geworden, da sieht er beim Mondenlicht hoch oben auf dem Steine das Mädchen stehen. Nun hält es ihn nicht länger. Rasch durchschwimmt er die blauen Wogen und eilt zu dem Felsen hinan. Dort erklärt er der Jungfrau seine Liebe und findet Erhörung. Sie sind die Glücklichsten der Welt. Alle Abende, wenn der Mond die Erde beleuchtet, stürzt sich der verliebte Jüngling in die Fluten. Eines Abends aber verspricht er, morgen zum letzten Male herüber zu schwimmen, denn am nächsten Sonntag will er bei den Eltern des Mädchens um ihre Hand anhalten. Doch vergebens harrt und lauscht am andern Tage die Braut, ob nicht des Stromes Rauschen den geliebten Schwimmer verkündige. Aber statt des Geliebten naht ihr um Mitternacht eine weiße Gestalt und lispelt ihr zu: „Fürchte Dich nicht, ich bin Dein Auserwählter! Des Stromes Göttin hat mich zu sich herabgezogen. Ich aber bleibe Dir ewig treu. Ehe ich jedoch scheiden muß, sing mir nur noch ein einzig Mal das Lied, daß Du zu meiner Schalmei so oft gesungen.“ Sie singt's und die Gestalt zerfließt langsam in Nebel. Die unglückliche Braut aber schlummert, vom vielen Weinen müde, auf dem Felsen ein, um niemals wieder aufzuwachen. Wenn nun um Mitternacht der Vollmond auf den Singestein herniederglänzt, da hört man klagende Töne von demselben heraberklingen und deshalb nennt man ihn den Singestein; wenn aber der Todestag des Mädchens wiederkehrt, sollen Engel über dem Felsen schweben und Rosen und Lilien auf denselben herabstreuen.

Quelle: Sagenbuch der Sächsischen Schweiz; Herausgegeben von Alfred Meiche, Leipzig 1894, Verlag von Bernhard Franke