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Der Neukircher Buschmüller

  M. II, Nr. 569 
  nach Dr. Pilk im "Sächsischen Erzähler" (Bischofswerda), Belletristische Beilage vom 18. August 1894

Ein früherer Besitzer der Buschmühle zu Oberneukirch verstand, so erzählt sich vielfach das Volk, die schwarze Kunst. Er verwahrte in seinem Tischkasten das sechste und siebente Buch Moses, aus welchen er sein unheimliches Wissen schöpfte. Vornehmlich besaß er die Gabe des sogenannten zweiten Gesichts. Mochte er sich im verborgensten, dunkelsten Winkel aufhalten, so sah er doch genau, was irgendwo an einem Punkte, selbst in weiter Ferne, sich ereignete. Einst lag der Hexenmeister an einem finstern Herbstabende in dem Raume hinterm Ofen, den man „die Hölle“ zu nennen pflegt. Da rief er plötzlich, ohne die Augen zu öffnen und ohne sich aufzurichten: „Lauft hinaus und jagt die Apfeldiebe fort!“ Die Mühlknappen eilten sogleich nach dem Obstgarten und gewahrten wirklich zwei fliehende Gestalten, welche eben einen Baum hatten plündern wollen. Ein andermal war der Buschmüller Sonntags zur Kirche gegangen, wie er oft zu tun pflegte. Da geriet daheim sein Knecht über das Zauberbuch im Tischkasten, nahm es heraus und las neugierig darin. Auch dieses merkte der Meister sofort in der Kirche. Er erhob sich und sagte im Weggehen zu seinem Nachbar: „Ich muß nach Hause, sonst wird mein Knecht umgebracht.“ Und er kam eilenden Schrittes noch zur rechten Zeit daheim an, um die Gefahr zu beseitigen, denn schon standen zwei Höllengeister mit langen Gabeln hinter dem unbefugten Leser, dem sie den Garaus machen wollten. Er bannte die Unholde und untersagte dem Knechte streng, das Buch jemals wieder zu berühren.

Des Schwarzkünstlers zweites Gesicht war als getreues Abbild seines Körpers von letzterem unabhängig, so daß dasselbe oft früher erschien als er selber. Manchen Dörfler beschlich ein Grausen, wenn der Buschmüller in seine Stube trat, sich niedersetzte, aber nicht redete, dann nach einiger Zeit, gewöhnlich fünf Minuten später, der rechte Buschmüller kam und genau auf dem Stuhle Platz nahm, wo sein voraus erschienenes Trugbild bereits saß, das nun mit ihm verschmolz.

Einstmals wollte er seine Kunst einem vierzehnjährigen Knaben, den er gern hatte, beibringen. Der Junge war begierig zu erfahren, welche Vorbedingungen dazu nötig wären. Da erklärte ihm der Buschmüller: „Du mußt mir, wenn Du nächstens wirst zum ersten Male an den Tisch des Herrn treten, die dir gespendete Hostie mitbringen und darfst sie nicht genießen. Nimm sie unbemerkt aus dem Munde und stecke sie in die Tasche!“ Der Knabe erzählte dies seinem Vater. Dieser, ein gottesfürchtiger Mann, drohte dem Buben ernstlich: „Unterstehe dich solches Frevels nicht, sonst bist Du meiner strengen Strafe sicher!“ Da hat's der Knabe auch nicht getan. Als er nun wieder einmal in die Buschmühle kam, fragte der Müller: „Wo hast Du die Hostie?“ Er schwieg betroffen. Da fuhr der Alte fort: „Hast Du, sei es auch nur ein einziges Mal, vom Leib des Gottessohnes genossen, so kann ich dir meine Kunst nimmer lehren!“

Vor seinem Tode hat der Buschmüller auch dreierlei geweisaget: „Es werden drei meiner Nachfolger in diesem Hause ihr Dasein in bedrängten Verhältnissen fristen müssen!“ - „Wenn die eisernen Straßen werden durchs Land führen, dann entsteht ein großer Krieg!“ und „Wenn die Frauen gerade solche Hüte wie die Männer tragen werden, dann wird die schönste Zeit vorüber sein!“

Quellen: