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Die stummen Glocken

  Mitgeteilt durch Herrn Dr. Pilk

Pfarrer Klunge in Neukirch, nach der Sage ein erfahrener Hexenmeister, dessen Macht über die Geisterwelt sehr groß war, hatte die Gewohnheit, oft bis tief in die Nacht hinein in der Sakristei der Kirche zu studieren, zum großen Leidwesen seiner dritten Gemahlin, welche den Gatten lieber bei sich im Pfarrhause gesehen hätte. Da sich Klunge durch vielfältige Bitten nicht bewegen ließ, von seiner Gepflogenheit abzugehen, ersann die Pfarrerin einen Plan, um ihm durch List den nächtlichen Aufenthalt in der Sakristei zu verleiten. Sie beredete einen Knecht, sich als Gespenst zu vermummen und so den Pfarrer abends zu schrecken. Der Bursche ging darauf ein. Er hing sich eine Ochsenhaut mit Kopf und Hörnern über und trat in vorgerückter Nachtstunde lautlos auf die Schwelle der „Dreßkammer„. Der Pfarrer wendete sich, als die Thür aufging, um und erblickte die Schreckgestalt. Im Bewußtsein seiner Ueberlegenheit beachtete er dieselbe kaum und vertiefte sich weiter in den Inhalt seiner Bücher. Das Phantom näherte sich ihm, ohne zu sprechen. Da sagte Klunge: „Bist Du ein Mensch, so rede!“ Und nach einer Weile wiederum: „Bist Du ein Mensch, so rede!„ Als aber die Gestalt standhaft schwieg, und der Pfarrer zum dritten Male vergeblich befahl: „Bist Du ein Mensch, so rede!“, da zerrissen unsichtbare Gewalten den armen Vermummten augenblicklich in lauter kleine Stücke.

Der Pfarrer ging nach Hause. Von ihm erfuhr sein Weib, was sich zugetragen hatte. Die Frau nahm sich, weil sie die Schuld an dem Tode des Knechtes trug, das vorgefallene Unglück derartig zu Herzen, daß sie sich selber entleibte. Pfarrer Klunge verheimlichte diese Thatsache und ließ ihr ein Begräbnis mit allen kirchlichen Ehren zu teil werden. Als aber der Zug vom Trauerhause nach der Grabstätte sich hinbewegte, was mit Geläute begleitet zu werden pflegt, da gab die Glocke troß alles Anschlagens der Klöppel keinen Ton. Klunge wußte, warum dies geschah. Er schritt dreimal um die Kirche herum, worauf sofort alle Glocken ertönten. Die Verstorbene schaute dann aus einer Fensteröffnung des Turmes ihrer eignen Beerdigung zu. Das Volk blickte entsetzt hinauf. Es war keine Täuschung; dort stand die tote Pfarrerin. Als auch Klunge dieses bemerkte, zog er schnell ein weißes Taschentuch hervor und winkte damit hinauf, worauf die Gestalt verschwand.

Quelle: Sagenbuch der Sächsischen Schweiz; Herausgegeben von Alfred Meiche, Leipzig 1894, Verlag von Bernhard Franke