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Der nächtliche Besucher

  K. Aue.

In einem Gasthofe zu Weimar lebte eine ehrbare Witwe als Erzieherin. Einst erwachte sie in der Nacht und sah mit Schrecken einen Mann in veralteter, wie es schien geistlicher Tracht vor dem Bette stehen. Dieser redete sie an und sprach, sie solle sich aufmachen und mit ihm in Tucks Garten gehen, da werde sie ihr Glück finden. Erschrocken gab die Frau keine Antwort. Der Geist schied mit der ernstlichen Mahnung, ihm zu folgen und dem Versprechen, wieder zu kommen. In der folgenden Nacht erschien er, obwohl die Thür verriegelt war, abermals, trug sein Begehren vor, erhielt aber ebensowenig Antwort, da die Frau sich fürchtete. Seitdem verging einige Wochen hindurch selten eine Nacht, in der der Geist nicht erschienen wäre und dieselben Worte an sie gerichtet hätte, aber stets ohne Erfolg. Einmal wagte die Geängstigte die Frage, ob der Geist ein guter sei, die er bejahte. Indeß ließ die Frau eine Dienstmagd in ihrem Gemache schlafen. Beide wachten die halbe Nacht, und schon glaubte die Frau für diese Nacht Ruhe zu haben, da die Stunde des Erscheinens vorüber war. Da erschien der Geist und redete wie immer. Die Magd schien nichts zu sehen. Als er verschwunden war, fragte die Frau ihre Genossin, ob sie den Geist gesehen und gehört habe. Aber das Mädchen schlief, und als sie erweckt war, wußte sie nichts von dem Geiste, und es ergab sich, daß bei des Geistes Erscheinen das Mädchen in Schlaf gesunken war.

Durch die wiederholten Besuche des Geistes wurde die Frau schwermüthig. Sie sann auf Mittel, ihrer los zu werden. Als sie deshalb ihren Beichtvater befragte, rieth ihr dieser, den Geist zu fragen, ob sie ihn mitbringen dürfe. Das that sie in der nächsten Nacht, erhielt aber keine Antwort von dem Geiste, der sogleich verschwand und nie wieder erschien.

Quellen: