<<< zurück | Sagen aus Thüringen - Orts- und Volkssagen | weiter >>>

Der Ziegenhirt

  3. G. Büsching Volkssagen S. 327 ff.
  Otmar Volkssagen. Bremen 1800. S. 153 ff.

Peter Klaus, der Ziegenhirt aus Sittendorf, der seine Heerde am Kyffhäuser weidete, pflegte sie am Abend auf einem mit alten Gemäuer umschlossenen Platz ausruhen zu lassen, wo er die Musterung über sie hielt. Seit einigen Tagen hatte er bemerkt, dass eine seiner schönsten Ziegen bald nachher, wenn er auf diesen Plass gekommen war, verschwand und erst spät der Heerde nachkam. Er beobachtete sie genauer und sah, dass sie durch eine Spalte des Gemäuers durchschlüpfte. Er wand sich ihr nach und traf sie in einer Höhlung, wo sie die Haferkörner auflas, die einzeln von der Decke herabfielen. Er blickte in die Höhe, schüttelte den Kopf über den Haferregen, konnte aber nichts weiter entdecken. Endlich hörte er über sich das Wiehern und Stampfen einiger muthigen Hengste, deren Krippe der Hafer entfallen musste.

So stand der Ziegenhirte da, staunend über die Pferde in einem ganz unbewohnten Berge. Da kam ein Knappe und winkte ihm zu folgen. Der Hirt stieg einige Stufen in die Höhe und kam über einen ummauerten Hof an eine Vertiefung, die ringsum von hohen Felsenwänden umschlossen war, in welche durch überhangende dichtbelaubte Zweige einiges Dämmerlicht fiel. Hier fand er auf einem Rasenplage zwölf ernste Ritter, deren keiner ein Wort sprach, beim Kegelspiel. Er wurde schweigend angestellt, die Kegel aufzurichten.

Anfangs that er dieses mit schlotternden Knieen, allmälig aber machte ihn die Gewöhnung dreister, er übersah alles um sich her mit festerem Blick und wagte es endlich aus einer Kanne zu trinken, die neben ihn hingesezt war und woraus ihm der Wein lieblich entgegen duftete. Er fühlte sich wie neu belebt und so oft er Ermüdung spürte, holte er sich aus der nie versiegenden Kanne neue Kräfte. Endlich übermannt ihn der Schlaf.

Beim Erwachen fand er sich auf dem umschlossenen grünen Platze wieder, wo er seine Ziegen gewöhnlich ausruhen liess. Er rieb die Augen, konnte aber weder Hund noch Ziegen entdecken, staunte über das hochaufgeschosszene Gras und über Sträucher und Bäume, die er vorher hier nie bemerkt hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter, alle Wege und Stege hindurch, die er täglich mit seiner Heerde zu durchirren pflegte, aber nirgends sah er eine Spur von seinen Ziegen. Unter sich sah er Sittendorf und endlich stieg er hinab, dort nach seiner Heerde zu fragen. Alle Leute, die ihm vor dem Dorfe begegneten, waren ihm unbekannt, waren anders gekleidet und sprachen nicht wie seine Bekannten; auch starrten ihn alle an, wenn er nach seinen Ziegen fragte und fassten sich an das Kinn. Fast unwillkürlich that er dasselbe und fand seinen Bart um einen Fuss länger. Die ganze Welt kam ihm zulezt verzaubert vor und doch kannte er den Berg, den er herabgestiegen war, als den Kyffhäuser, auch waren ihm die Häuser mit ihren Gärten und Vorplätzen wohl bekannt.

Er ging in das Dorf nach seiner Hütte. Dieselbe war sehr verfallen und vor ihr lag ein fremder Hirtenknabe in zerrissenem Kittel neben einem abgezehrten Hunde. Drinnen in der Hütte fand er alles so wüste und leer, dass er aus der Hinterpforte wieder hinaus wankte und Frau und Kinder bei ihren Namen rief. Niemand hörte und keine Stimme antwortete ihm.

Bald umdrängten den suchenden Mann mit dem langen, eisgrauen Barte Weiber und Kinder und fragten ihn, was er suche. Vor seinem eigenen Hause Andere nach seiner Frau und seinen Kindern oder gar nach sich selbst zu fragen schien ihm so sonderbar, dass er, um die Fragenden los zu werden, die nächsten Namen nannte, die ihm einfielen. „Kurt Steffen!„ Die meisten Leute schwiegen und sahen ihn an, endlich sagte eine bejahrte Frau: „seit zwölf Jahren wohnt er unter der Sachsenburg, dahin werdet ihr heute nicht kommen.“ „Velten Meier!“ Gott habe ihn selig!“ sprach ein altes Mütterchen an der Krücke, „der liegt schon seit fünfzehn Jahren in dem Hause, dass er nimmer verlässt.“

Der Hirt erkannte mit Schaudern seine alt gewordenen Nachbarinnen und die Lust war ihm vergangen weiter zu fragen. Da drängte sich durch die Leute ein junges rasches Weib mit einem einjährigen Knaben auf dem Arm und einem vierjährigen Mädchen an der Hand, die alle drei seiner Frau wie aus den Augen geschnitten waren. Wie heisst ihr?„ fragte er staunend. „Maria.“ „Und euer Vater?“ „Gott habe ihn felig! Peter Klaus; es sind nun zwanzig Jahre, dass wir ihn Tag und Nacht suchten auf dem Kyffhäuser, da die Heerde ohne ihn zurückkam; ich war damals sieben Jahre alt.“

Länger konnte sich der Ziegenhirt nicht halten. „Ich bin Peter Klaus,“ rief er, „und kein anderer!“ und nahm seiner Tochter den Knaben vom Arm. Alle standen wie versteinert, bis endlich eine Stimme und noch eine Stimme rief: „ja, das ist Peter Klaus! Willkommen Nachbar, nach zwanzig Jahren willkommen!“

Quellen: