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Die Bittschriften Linde

Der Tod Friedrich II. am 17. August 1786, der die Preußischen Länder in tiefe Trauer versenkte und die Theilnahme aller Völker in Anspruch nahm, war für Potsdam eines jener Ereignisse, die, obschon sie lange vorausgefürchtet sind, doch sich in ihrer ganzen schmerzlichen Größe erst nach und nach denjenigen deutlich mache, welche durch den Verlust zuerst mehr betäubt und erschreckt wurden. Potsdam war der Lieblingsaufenthalt des großen Königs gewesen, dem er lange Zeit seine Gunst und Gnade zugewandt, den er auf jede Weise ausgeschmückt und gehoben hatte.

Die prächtigen Häuser der Stadt, die Paläste mit ihren Parkanlagen, die wohlthätigen Stiftungen, wie die Einrichtung der verschiedensten Manufakturen und Fabriken, Alles war fein Werk, und er schien die Pflege von Potsdams Glück und Wohlstand zu einer Beschäftigung für die Mußestunden gemacht zu haben, in welchen sich fein großer Geift von den Sorgen und Anstrengungen feines hohen Berufes erholte. Die Bewohner Potsdams standen in einem eigenthümlichen, fast kindlichen Verhältnisse zu dem großen Könige, und wie denn gemeiniglich erzeigte Güte und Wohlthaten die Ansprüche des Empfängers steigern, so glaubten sie durch das viele Gute, das ihnen durch den König wurde, gleichsam ein Recht gewonnen zu haben, sich bei jeder für sie bedeutenden Angelegenheit in ihren kleinen Lebensverhältnissen mit der Bitte um Rath und Hülfe an den gütigen Monarchen wenden zu dürfen, welche dieser auch fast immer und zuweilen bei den sonderbarsten Gesuchen gewährte.

Friedrich II. bewohnte die Eckzimmer im Schloß nach der Teltower Brücke zu, von wo er die freundliche Aussicht auf die Havel und den Brauhausberg genießen konnte, und selbst von seinem Schreibtische aus vermittelst dreier Spiegel den Lustgarten, die Brücke und die ganze Umgebung des Schlosses übersah. Unter dem Fenster zunächst der Brücke steht eine alte Linde, die noch jetzt die Bittschriften-Linde, genannt wird, weil an ihr diejenigen ihren Standplatz zu wählen pflegten, welche ein Gesuch in die Hände des Königs zu bringen wünschten. Sah sie der König hier stehen, schichte er gemeiniglich sogleich hinab, um ihnen die Bittschreiben abnehmen zu lassen.

Dieser Weg, Wünsche oder Klagen vor den König zu bringen, wurde aber nicht bloß von den Bewohnern der Stadt und ihrer Umgebung gewählt, aus den fernsten Theilen des Reiches sah man unter dieser Linde die Bittenden in ihrer Heimathlichen Tracht stehen, hoffend und fürchtend ihre Blicke zu den Fenstern des königlichen Arbeitszimmers hinauf gerichtet. Die halbverwachsenen Narben, welche einige Fuß von der Erde ringsum in der Rinde des Baumes zu sehen sind, sollen von dem Pflücken und Zupfen herstammen, womit die Suplicanten in der Unruhe ihres Herzens den Stamm verwundeten.

Es war natürlich, dass man sich nur langsam und schwer an den Gedanken gewöhnen konnte, die wohlbekannte und geliebte Gestalt in ihrer eigenthümlichen Tracht und Haltung mit dem kleinen Hute, der Krücke und den durchdringenden Augen wandele nicht mehr unter den Lebenden und der Volksglaube, der auf seine Weise dem Außerordentlichen Unsterblichkeit zu verleihen pflegt, hielt es lange Zeit für unzweifelhaft, der König wandele wie im Leben, umspielt von seinen Lieblingshunden, die gewohnten Pfade auf der Terasse von Sansouci und durch die Alleen im Rehgarten nach dem Neuen Palais, oder sitze einsam und ernst an seinem Schreibtische. Viele bekannte Leute wollen gesehen haben, wie sich seine Gestalt im Zwielicht oder Mondschein am Fenster seines Arbeitszimmers zeigte.

Die Zahl derjenigen, welche zur Zeit des großen Königs gelebt, wird immer geringer; die ihr folgende hat große Ereignisse zwischen seinen Tod und unsere Tage gedrängt. Vieles im Glauben, Wissen und Meinen ist ein Anderes geworden, Manches in Frage gestellt, doch ist die Huld und Güte seiner Nachfolger Potsdams schönes Erbtheil geblieben, und wenn wir uns, wie keine andere Stadt, dieses Glücks zu rühmen haben, so sind wir fast eifersüchtiger noch auf ein anderes Vermächtniß - die treue und vertrauensvolle Liebe und die dankbare Anhänglichkeit und Verehrung für unser Königshaus, welche wir ererbt – ein Vermächtniß, das wir unangefochten der Zukunft überliefern werden. Im Volke aber hat sich noch ein Glaube erhalten, der aus jener Zeit stammt.

Wenn Jemand über die Erfüllung eines Wunsches oder einer Hoffnung unruhig ist, und sein Herz im bangen Zweifel sich ängstigt, dann geht er heimlich um Mitternacht unter die Linde am Schloß und schauet hinauf zu dem Eckfenster; scheint dieses dann wie durch ein blasses, weißes Licht von Innen heraus erleuchtet, so ist dies ein sicheres Zeichen, das die Erfüllung seiner Wünsche und Hoffnungen verkündet.

Quelle: Karl v. Reinhard, Sagen und Mährchen aus Potsdams Vorzeit, Potsdam 1841, Verlag der Stuhrschen Buchhandlung