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Die fliegende Frau

Bevor das Christenthum sich über das nördliche Deutschland verbreitete, war es die gute Frau Hare (Here, Haro, Hertha), welche dem Menschen alles schenkte, was er braucht, um sein Leben zu verschönern. Zwölf Nächte nach dem kürzesten Tage flog sie über das waldige, schneebedeckte Land, und wo sie in den Häusern fleißige und geschickte Arbeiter fand, da zog sie ein durch irgend eine Öffnung und segnete die Wohnung mit Glück und Freude für das nachste Jahr, wo sie aber Unreinlichkeit und Versäumniß sah, da bestrafte sie die Nachlässigen; deshalb liebten oder scheuten die Menschen sie, je nachdem sie ihren Besuch wünschen oder fürchten mußten. Das große Juhlfest, das vier Wochen währte, fing damit an, daß man der Hare fette Schweine opferte, dann begann sie ihren Flug; überall ertonte der Ruf: „Frow Hare de vlughet,“ und jeder Hausherr offnete Fenster und Luken und lud die „dlughende Frowe„ zum Besuch ein.

Als die christlichen Priester die heidnischen Götter vertrieben, ihre geweihten Bäume verbrannt und die Tempel zerstört hatten, konnte sich die gute Hare nicht von den Gegenden trennen, welche durch sie so lange beschützt und beglückt waren, und trotz Bann und Beschwörungen flog sie indes zwölf Nächten von Weihnachten bis zum großen Neujahr — auch das heilige drei Königsfest oder der heilige Oberstentag genannt - umher, und wohl bekannt gewesen und oft wahrgenommen ist Frau Harke oder Holle, wie man sie später nannte, allezeit in den nordlichen Landen. Der alte Schäfer zu Grubow hatte am heiligen Abend vor Weihnachten alles zum Feste beschickt und geordnet, dann ging er in die Stube seines Sohnes, der bei ihm als Knecht diente, und fand diesen mit der jungen Frau vor der Wiege ihres ersten Kindes, beschäftigt, den Weihnachtsbaum auszupacken.

Nachdem er hier freundliche Handreichung geleistet und dem Enkel, der fröhlich nach den hellen Lichtern langte, über die runden Backen gestreichelt, winkte er den Sohn hinab in den Schafstall und ermahnte ihn mit leiser Stimme: Du weißt, heut gehen „die Zwölfe“ an, die fliegende Frau zieht umher, und alles Raubgethier ist wüthender und gefährlicher in dieser Zeit. Sei achtsam auf die Herde und verwahre den Pferch wohl; nenne Ihn (den Wolf) nicht während der zwolf Tage, er geht umher, hört es und wird böse; haue den Keil für den Wagen der Frau Harke und lege ihn auf die Schwelle, daß sie ihn findet, wenn sie ihn braucht, wonicht, stecke ihn später in unsern Wagen. Auf die Frau und die Magd ist in dieser Zeit nicht viel zu rechnen, die hält die Furcht am Rocken fest, daß sie bis Groß-Neujahr den dicken Flachsknoten nicht abspinnen können, und dann von der Hare gekratzt und besudelt werden; sorge, daß deine Frau keine Hülssenfrüchte kocht, du weißt, das bringt Schaden, laß sie lieber weder Linsen, noch Bohnen, noch Erbsen berühren; vor allem aber hüte das Kind. - Damit meinte der alte Schäfer aber, er sollte das Kind bewahren, daß der Wehrwolf es nicht hole und fresse.

Der Sohn blieb bei den Schafen; der Alte sah noch einmal in die Weihnachtsstube, wo die Mutter vor der Wiege saß, und dann ging er hinaus auf den Voßberg vor dem Dorfe, schaute nach allen Seiten hin und hielt den naßgemachten Finger empor, um zu fühlen, woher der Wind wehe. Der Alte wußte wohl, daß Frau Hare in den Zwölfen die Witterung für das Jahr mache, und daß jeder Monat desselben ganz so ist, wie sein Tag zwischen Weihnachten und Groß- Neujahr. Es war aber eisig kalt auf dem Berge, und der Ostwind wehte scharf über das Blachfeld und trieb den feinen Schnee in langen Streifen zusammen; deshalb hüllte der Alte sich fester in seinen Pelz und machte sich bald auf den Heimweg. Sein Haus war das erste im Dorfe, bevor er es aber erreichte, sah er ein großes, zottiges Thier quer über den Acker nach dem Walde zu eilen; und als er an die Hausthúr kam, fand er dieselbe weit geöffnet. Ihm ahnte nichts Gutes. In der Stube fand er Niemand, die Lampe brannte auf dem Tisch, die Kammer der Magd war verschlossen, und den Sohn hörte er auf den unruhigen Hund im Stau schelten. Ängstlich leuchtete er nach der Wiege, das Kind war fort. –

Kaum hatte der alte Schäfer, als er nach dem Voßberge ging, das Haus verlassen, so rief die Frau die Magd herbei, und gebot ihr, bei dem Kinde zu bleiben, weil sie noch in das Dorf müsse. Dann holte sie einen Korb und ein Messer aus der Küche, und schlich längs den Hecken entlang über den knisternden Schnee, jenseits der Ede aber stieg sie über den Zaun und füllte in hastiger Eile den Korb mit Kohl. Die gute Frau war sonst fromm und ehrlich, aber in der Christnacht dem Rindvieh und den Pferden, welche in dieser Nacht, nach dem allgemeinen Glauben, fraßen und sich nicht niederlegten, frisch gestohlenen Kohl zugeben, das hielt sie wie Jedermann für erlaubt; wäre es Sünde gewesen, wie hätte denn wohl danach das Vieh so sichtlich gedeihen können? Sowie die Frau aber das Haus verlassen hatte, war die Magd in ihre Kammer gegangen, hatte alle Kleidung, sogar das Haarband von sich gelegt, und wusch und scheuerte stillschweigend Geräth und Gemach; denn wenn sie dies thue, war ihr versichert, käme in dem Jahre der Freier. –

Der alte Schäfer stand händeringend im Zimmer, ihm blieb kein Zweifel, der Wehrwolf hatte das liebe Kind geholt. Er hatte nicht den Muth, den Sohn zu rufen, nicht die Kraft, die Stube zuverlassen, seine Beine zitterten und versagten ihm den Dienst.

Noch stand er so mit der Lampe in der Hand, da stürzte leichenblaß die Frau herein, in der einen Hand den Korb mit Kohl, in der anderen, fest in die Windelkissen gehüllt, das Kind. Lange währte es, ehe sie sprechen konnte, und erst nach dem sie den Liebling in der Wiege geborgen und laut schluchzend sich an derselben ausgeweint hatte, konnte sie erzählen. Als sie wieder um die Zaunecke gebogen, da sei ein großer Wolf längs der Hecke auf sie zugerannt, dicht vor sich habe sie ihn erst gesehen und laut aufgeschrien. In dem Augenblick hätte es gewaltig in den dürren Blättern des Baumes über ihr gerauscht, und ein dunkler Schatten sei wie Rabenflug über sie dahingezogen. Der Wolf aber habe das Kind aus seinem Rachen zu ihren Füßen hinfallen lassen, und sei über den Acker dem Walde zu gelaufen. Da faltete der Schäfer andächtig die Hände und sagte: „das war die gute Frau Harke.“

Quelle: Karl v. Reinhard, Sagen und Mährchen aus Potsdams Vorzeit, Potsdam 1841, Verlag der Stuhrschen Buchhandlung