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Der tiefe Grund

(An der Chaussee nach Berlin dicht hinter Glienicke.)

Lange, lange Zeit schon, ehe die slavischen Völker des Asowschen Meeres verließen und sich nach vielen blutigen Kämpfen mit den Urbewohnern, in den Ländern zwischen der Elbe und Weichsel, festsetzten, wurde die Gegend an der Havel und Spree von den Semnonen, einem mächtigen germanischen Völkerschaft, bewohnt. Es war ein Volk mit trotzigen blauen Augen, von hohem Wuchse und gelbem Haar, arglos und zutraulich gegen Freunde, listig und stark im Kriege und stets bereit dazu, seine wilde Unabhängigkeit betrachtete es als sein höchstes Gut und duldete trotzig lieber Marter und Tod, als daß es sich das Leben mit der Freiheit erkaufte.

Jagd und Viehzucht ernährten den Germanen, der, unbekannt mit dem Ackerbau, dem Gebrauche der Metalle, der Buchstabenschrift und allen Künsten, die das Leben verschönen, in feinen dunkeln Wäldern die Lage zwischen träger Ruhe, groben Genüssen und harten Beschwerden verbrachte. Nur der Muth und die Stärke berechtigten zum Herrschen; der Tapferste wurde zum Anführer und der Weiseste unter den Greisen zum Fürsten erkoren, der nach altem Herkommen und Gebrauche Recht sprach und den Streit entschied mit den Ältesten. Von der Gottheit hatten diese Völker nur sehr einfache und rohe Begriffe; das Feuer und die Erde, die Sonne und der Mond wurden von ihnen göttlich verehrt und außerdem mancherlei sichtbare und unsichtbare gute und böse Wesen, denen sie einen mächtigen Einfluß auf ihr Leben und ihre Handlungen zuschrieben, und deren Willen die Priester nach ihrem Vorgeben erforschen und durch Opfer und Beschwörungen zu bestimmen vermochten. Durch die Verehrung vieler Geschlechter geheiligte Orte unter hohen Bäumen, Höhlen und Felsengrotten waren ihre Tempel, wo die Kriegszeichen aufbewahrt und die Feste der Götter mit blutigen Opfern gefeiert wurden.

Die Oder, damals weit breiter, mit ihrer tiefen und bruchigen Niederung und die undurchdringlichen Wäldern an ihren Ufern hatten die westlich gelegenen Länder eine lange Reihe von Jahren gegen den Andrang der Slaven geschützt. Aus diese sich aber immer mehr ausbreiteten, entspann sich in jenen Gegenden ein langer verheerender Kampf, der mit immer größerer Grausamkeit geführt wurde und bei dem die Semnonen, obgleich sie bald mit kühner Tapferkeit ihre Grenzen vertheidigten, bald durch verstellte Rückzüge den Feind in grundlose Moore und Brücher verlockten, immer mehr Boden verloren. Da, wo sich der Oder- und der Elbstrom am meisten nähern, ziehen sich zwischen den Hügelketten und Landhöhen die mehrfachen Reihen der Spree - Brücher und die Seen und Arme der Havel hin, in der damaligen Zeit bei weitem reicher an Wasser und fast undurchdringlich. Bis an diesen leicht zu vertheidigenden Abschnitt hatten sich die verschiedenen Stämme zurückgezogen; hier aber machten sie Halt und behaupteten siegreich lange Zeit diese neue Grenze. Immer größer aber wurde die Menge der Feinde und immer schneller folgten sich ihre Anfälle.

Auf dem Glienicker Werder, der damals auch auf jenen Strecken mit Wasser umgeben war, wo jetzt bei Stolpe niedrige Wiesen sich hinziehen, hatten die Semnonen einen der Erde geweihten Tempel, zu welchem sie in den Nächten des Neumonds weit her mit ihren Opfergaben zogen. Hier vernahmen sie die geheimnißvollen Sprüche der Priester und saßen dann, begeistert von den Heldengesängen der Barden und trunken von dem mit Honig vermischten, aus zerstoßener Gerste bereiteten Getränke, auf dem Thingplatze zu Rathe. Die Abhänge des fast kreisrunden Grundes, der beim Bau der Chaussee eine ganz andere Gestalt erhalten hat, auf dessen Boden man aber noch jetzt ein mit Schilf umzogenes Wasserbecken sieht, waren mit hohen tausendjährigen Eichen bewachsen, die ihre grauen zackigen Äste über den kleinen See zu einer dichten Wölbung verflochten, welche auch zur Mittagszeit den moosbedeckten Boden des Grundes in geheimnißvolle grüne Dämmerung hüllte. An der Nordseite des dunklen tiefen Wassers war in der Bergwand eine Höhle aus rohen Steinen gebildet, und im Hintergrunde aus der knorrigen Wurzel eines Eibenstammes, fast ganz ohne künstliche Hülfe geformt, stand das blutbefleckte, mit der Beute vieler Kämpfe geschmückte Götzenbild. Auf dem schmalen Raume zwischen dem Eingange der Höhle und dem See lag der flache Opferstein mit den Blutrinnen, und auf der anderen Seite des Sees waren im Halbkreise die Steine aufgerichtet, welche den Häuptern und Ältesten zum Sitze dienten, während das Volk auf den Stufen des südlichen Abhanges stand, wenn bei dem rothen knisternden Feuer der Kienbrände und dem dumpfen Zaubergesange der Priester das Opfer sein Leben stöhnend vor dem Götzenbilde aushauchte.

Eine Strecke von diesem Orte auf der breiten Kuppe des Schäferberges war in dem dichten Walde ein kreisförmiger Raum ausgehauen, von welchem nach allen Himmelsgegenden hin Wege ausliefen. In der Mitte lag ein mächtiger Felsblock, und rings umher in immer größeren Bogen waren auch hier Sitzsteine aufgerichtet, die erst in der neuesten Zeit von dort zum Wegebau fortgeführt sind. Auch die „weiße Bank“ bei der schönen Aussicht auf dem Schäferberge ist von ihnen erbaut. Dies war der Thingplatz; hier versammelten sich, von den Fürsten durch Feuerzeichen und Rauchsäulen auf den Bergen hergerufen, die wehrhaften Männer der Stämme, hier wurden für Krieg und Frieden Beschlüsse gefaßt, und hier wurde unter dem Einflusse der Priester die Ausführung derselben berathen. Wenn die Ältesten, welche im Schmucke ihrer Waffen, und der Siegeszeichen aus manchen Kämpfen den inneren Raum einnahmen, in kurzen Worten ihre Meinung gesagt hatten, dann gab das Zusammenschlagen der Waffen oder das dumpfe Gemurmel der Menge ihren Beifall oder ihre Abneigung kund. Hiernach wurde der Beschluß gefaßt und schnell ausgeführt, wenn nicht etwa warnend oder Zweifel erregend die Stimme des Priesters sich erhob oder geheimnisvolle Töne und Zeichen vom geweihten Steine in der Mitte her die Meinung der Männer umstimmten. Noch jetzt erzählt man, daß von der Stelle, wo der Tempel im tiefen Grunde stand, einst ein unterirdischer Gang bis zu der Kuppe des Schäferberges führte.

Immer weniger waren der Männer beim Thing geworden, immer tieferes Schweigen ruhte auf der Versammlung wenn nach einem neuen Vordringen der Wenden die Feuerzeichen sie berufen hatten. Zwar verhießen der Priester Worte den Beistand der Götter, und alle Vorzeichen kündeten nahe Siege; zwar kämpften die Führer mit der Kraft der Verzweiflung und die Schaar der Jünglinge, welche ihre Leibwache bildete, zeigte sich der erwählten Führer würdig; aber zu groß war die Masse der andringenden Feinde, und ohne die Vortheile des Bodens, ohne das undurchdringliche Weichland, und den Schoß der dicht verwachsenen Wälder, hätten die Semnonen längst den ungleichen Kampf aufgeben müssen.

Noch einmal, zum letzten Male, war der Thing berufen, zum letzten Male übergab der greise Priester die heilige Fahne aus dem Tempel dem kühnsten der Führer, und die Barden sangen den Schlachtgesang. Dann zog das ganze Volk dem Feinde entgegen, dessen mächtiges Heer zwischen der Nuthe und Becke in der Gegend des Sterns sich zum Kämpfe rüstete. Jünglinge und Greise zogen mit; Frauen und Jungfrauen folgten Waffen tragend, und Barden und Priester munterten mit ihnen die Streiter zum letzten entscheidenden Kampfe auf. Er war blutig aber kurz. Das kleine Häufchen der Semnonen wurde erdrückt von der Menge; keiner floh, Alle erlagen.

Nur der alte, hundertjährige Priester war beim Tempel zurück geblieben. Hier im heiligen Grunde hatte er die Kinder um sich versammelt, und zum letzten Male floß das Blut auf dem Opfersteine: Das Götzenbild war aus dem Tempel herausgebracht und stand dicht am Wasser, geschmückt mit allen seinen Schätzen. Vor ihm auf dem Boden lag betend der Priester, rings um ihn die zitternden Kinder. Der blutige Kampf hatte bis zum Abend gewährt. Vorsichtig, einen Hinterhalt fürchtend, drang in der Nacht die starke Vorhut der Wenden vor; bald war der tiefe Grund umringt, doch erst am Morgen wagten sie unter seine Eichen hinab zu steigen. Alle Kinder wurden ihre Beute; zu Sklaven auferzogen, bildeten sie den Überrest des einst so mächtigen Stammes der Semnonen; noch jetzt sind ihre Nachkommen an dem hellen Haar und den blauen Augen unter den Wendischen Abkömmlingen zu erkennen.

Der Priester aber und das reiche Götzenbild waren verschwunden; der tiefe, dunkle See barg beide in seinem Schoße. Lange Zeit betrachteten die Nachkommen der Semnonen den Ort noch als heilig, und wagten nicht, ihn durch Suchen nach den Schätzen zu entweihen; späterhin verwuchs der See immer mehr, und es wurde unmöglich, durch Schlamm und Wurzelgeflecht bis auf seinen Grund zu dringen.

Quelle: Karl v. Reinhard, Sagen und Mährchen aus Potsdams Vorzeit, Potsdam 1841, Verlag der Stuhrschen Buchhandlung