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Der wunderbar erhaltene Schüler

  Mündlich. 
  Sammlung von Schön No. 10. Msc.

Zwei Brodschüler zu Sorau kamen eines Tages in ihren schwarzen, weiten Chorröcken vom Singen zurück und stiegen auf den hohen Thurm der Stadtkirche, um Dohlen auszunehmen, die da oben unter dem Dache häufig nisten. Um dahin zu gelangen, geht der eine auf einem Brette, welches der andere hält, zu einem Schallloche hinaus und findet in einem Neste fünf junge Dohlen. „Hier sind fünf,“ ruft er seinem Genossen zu, „drei für mich und zwei für Dich; denn ich muß die meisten haben, weil ich sie ausnehme.“ „Nein,“ sagt der andere, „ich muß die meisten haben, weil ich das Brett halte; das ist schwerer wie das Ausnehmen.“

So streiten sich die Beiden immer fort, während der erstere eine Dohle nach der andern aus dem Neste nimmt und in die Tasche steckt. Als er im Begriffe ist, auch die letzte zu bergen, spricht der andere ganz erbost: „Nun wie ist's? giebst Du mir drei? sonst laß ich das Brett los und Du fällst herunter;„ und indem wie der Draußenstehende mit Heftigkeit „Nein“ sagt, läßt der da drinnen los und jener stürzt von dem hohen Thurme herab.

Jetzt faßt Todesschrecken den unbesonnenen Knaben, er läuft athemlos die Treppe herab und erwartet nichts Geringeres, als seinen Freund zerschmettert auf dem Steinpflaster liegend zu finden. Der aber kommt ihm an der Kirchthüre lachenden Muths entgegen, reicht ihm zwei Dohlen hin und sagt: „Es bleibt dabei, Du kriegst nur zwei Dohlen.“ Der Wind hatte den weiten, steifen Churrock aufgeblasen und ihn zu einem Fallschirme gemacht, mit dessen Hülfe er unbeschädigt unten angelangt war. Zum Andenken dieser wunderbaren Begebenheit war in der Kirchmauer ein steinernes Bildnis eingefügt, welches einen Knaben im Chorrocke darstellt.

Anmerkungen: Die Geschichte wird von mehreren anderen Kirchthürmen erzählt, z. B. von dem zu Gaithein bei Leipzig, an dem ein ähnliches Steinbild zu sehen ist. S. Widar Ziehnert S. Volkssagen II. 223. von der Marienkirche in Berlin (Ruhn M. Sp. 118.). Ebenso von Breslau (Gödsche Schles. S. S. 27.) und Lübeck (Aomus Voltos. S. 245.).

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862