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Von dem Kräutlein Sonnenthau

  Frenzel, hist. nat. II. 806. msc.

An vielen Orten der Lausitz, besonders aber im Görlitzer Weichbilde, wächst ein Kräutlein, das heißt das Kräutlein Sonnenthau. Es ist gar ein klein und bescheiden Blümchen, von einer fröhlichen purpurrothen Farbe, und doch ist es eine Wunderblume, denn ob auch rings alle anderen Blumen vom heißen Sonnenbrande vertrocknet sind und nach Labung lechzen, das Kräutlein Sonnenthau ist immer frisch und schimmert hell von tausend Thautröpflein, und je heißer die Sonne sticht, desto mehr der Tröpflein hat es, und wenn du sie ihm abwischest, so kommen sie desto zahlreicher wieder zum Vorschein.

Es ist aber auch ein Kräutlein, das nicht nur ein Wunder ist, sondern auch Wunder thut, das macht: es blüht im August, wenn die Sonne im Löwen steht. Thut man das Kräutlein oder seinen Saft in ein Glas voll Gift, so springt das Glas plötzlich in Stücken, und ist's in einem silbernen Becher, so schäumt und sprudelt der Trank wie kochendes Wasser über den Rand des Bechers. Ist Einer von einem bösen Geist besessen, so hängt ihm das Kraut um den Hals, dem Kräutlein Sonnenthau kann der Teufel nicht widerstehen und wird alsbald von ihm ausfahren. Gebärenden Frauen erleichtert es die Wehen; wer es bei sich trägt, dem kann kein Unfall widerfahren; wer ermüdet ist von Arbeit oder einem weiten Wege und kaut das Kräutlein Sonnenthau, der wird wieder stark und frisch. Die Astrologen halten es gar hoch und wissen noch manches Geheimniß vom Kräutlein Sonnenthau.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862