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Das Veilchen vom Tschernebog
Köhler, Bilder aus der O. L, S. 43. Grässe S. 488.
Als noch das Wendenland in heidnischen Aberglauben versunken war, da verehrten die Sorben einen Götzen Tschernebog, von dem der Berg den Namen hat, weil er hier oben ein prächtiges Schloß bewohnte. Derselbe hatte aber ein liebliches Töchterlein, das er höher schätzte als alle seine Schätze. Wie nun aber das Christenthum sein Licht auch in diese Gegend trug, da wußte er, daß sein Reich auf dieser Welt zu Ende war, und als das Kreuz zum ersten Male auf dem Berge erglänzte, da war der Götze zu Stein geworden und mit ihm sein stolzes Schloß, sein reizendes Töchterlein aber ward in ein bescheidenes Veilchen verwandelt. Alle hundert Jahre einmal in der Walpurgisnacht erwacht die Jungfrau zum Leben, und wem es beschieden ist, das Veilchen in diesem Augenblicke zu pflücken, der erhält die holde Jungfrau mit allen Schätzen ihres Vaters.
Anmerkungen: Diese Sage könnte als Motto unserm Buche voranstehen. Das Heidenthum ist todt. Der finstere blutige Götzendienst ist zerstört. Die Altäre der Götter sind zu ihrem Sarkophage geworden; da liegen sie auf den grünen Bergen in majestätischer Ruhe, aber zu ihren Füßen blüht das Wunderblümchen der Sage, ein verstecktes, bescheidenes, heim liches Veilchen, dunkelfarbig und düftereich, eine verzauberte Jungfrau, ein Götterkind, geschmückt mit dem Reize der Poesie, und wir pflücken die Wunderblume und ziehen sie an's Herz, und die Schauer der Vorzeit, die um den alten Steinsarg wehen, bewegen uns das Innere zugleich mit der Wonne uralter und doch ewig junger Dichtung.
Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862