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Der ewige Durst

  Grässe S. 497.

Verfolgt man in Wilthen, zwei Stunden südlich von Bautzen, den Fußweg, welcher hinter der Kirche über den Berg nach Bautzen führt, so gewahrt man linker Hand unterhalb des Waldes einige Wiesen mit einer Quelle. Dort zeigt sich zuweilen in der Mittagsstunde eine weißgekleidete Frau, welche bis an die Quelle wallt und sich bückt, um mit der Hand Wasser zu schöpfen. Aber wie sie sich auch müht, sie kann das Wasser doch nicht erreichen, und tief seufzend entfernt sie sich wieder und verschwindet. Diese Erscheinung heißt „der ewige Durst.“

Alte Leute erzählen, es habe einst eine junge Frau in Wilthen während ihrer Niederkunft unsäglichen Durst gelitten, und die Wehefrau gebeten, ihr zur Kühlung nur einige Tropfen Wasser zu reichen. Aber die Kindfrau verweigerte ihr die Labung, und so verschied sie unter den Qualen jenes verzehrenden Durstes. Seit dieser Zeit geht sie alle Mittage an jene Quelle, will Wasser trinken – denn sie dürstet noch immer – und kann doch das Wasser nicht erreichen, ein weiblicher Tantalus mit hoffnungsloser Qual.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862