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Die Mär von der Pest

  bei Vetschau R 

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder. Einstens gingen beide in den Wald spazieren und setzten sich auf einen grossen, schwarzen Stein. Im Gespräche sagte der König zu seiner Gemahlin: „Wenn wir doch ein Kind hätten, es möchte sein wie es wollte, so wäre ich glücklich.“ Da erscholl eine Stimme aus dem Stein, welche sprach: „Ueber's Jahr habt Ihr ein Kind.“

Das Jahr verging. Nach Ablauf desselben gebar die Königin eine Tochter, die war so schwarz wie Ebenholz. Als die Prinzessin zwölf Jahre alt war, starb sie. Man trug die Leiche in einem schwarzen Sarge, welcher offen war, in die Kirche. Dort wurde der Sarg vor den Altar gestellt. Ein Soldat stand als Wache davor.

Am andern Morgen, lag die Prinzessin im Sarge, der Soldat aber war verschwunden. Wieder musste ein Soldat in der nächsten Nacht Wache stehen, aber am andern Morgen war auch er verschwunden. Das ging so ein ganzes Jahr hindurch: alle Wächter verschwanden auf eine unerklärliche Weise, die Prinzessin im Sarge aber blieb unverändert. Endlich musste wieder einmal ein Soldat Wache stehen. Der Soldat hatte von den Seinen Abschied genommen, denn er glaubte, er werde am andern Morgen verschwunden sein. Als er in der Kirche allein bei dem Sarge stand, kamen ihm allerhand Gedanken. Es fiel ihm ein, unter den Sarg zu kriechen. Er kroch auch darunter, und zwar gerade am Kopfende des Sarges. Die Uhr schlug zwölf. Da richtete sich die Prinzessin auf und schmatzte wie ein Schwein. Darauf sprang sie schnell aus dem Sarg und wollte den Wächter auffressen. Als sie aber Niemand sah, sprach sie: „Hat mir mein Vater heute kein Opfer geschickt?“

Darauf begann sie zu suchen. Endlich fand sie den Soldaten. Als sie ihn unter dem Kopfende des Sarges erblickte, sprach sie: „Du hast mich erlöst. Was hinter mir ist, greife ich nicht an. Weißt Du, wer ich bin? Ich bin die Pest.„ Sie sprach noch einen grossen Fluch über die Menschen aus, darauf verschwand sie.

Der Soldat erzählte am andern Morgen Alles, was er in der Nacht erlebt hatte.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880