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Der Wundervogel

Ein Nachtschichter, der im Spiegeltäler Pochwerk arbeitete und gerade untergeschürt hatte, setzte sich an einem schönen Sommerabend vor das Pochwerk auf die Bank und verzehrte sein Abendbrot. Die Tannen rochen so angenehm, und die Vögel sangen so schön, dass es eine wahre Lust war, da so allein zu sein. Als der Nachtschichter so vergnügt über das alles war und sich über die Welt freute, die der liebe Gott so schön gemacht hatte, kam ein Vogel geflogen und setzte sich dem Nachtschichter gegenüber auf einen Tannenzweig. Dann hüpfte er näher zu dem Nachtschichter. Es war, als wollte er sich ordentlich sehen lassen. Als dieser aufstand und dem Vogel näher kam, da flog das Tierchen fort und war in den Tannen verschwunden.

Am anderen Abend nahm der Nachtschichter etliche Leimruten1) mit an die Arbeit, band eine starke an eine lange Stange und dachte, damit den Vogel zu ergattern, wenn er wieder käme. Anfänglich ließ der Wundervogel lange auf sich warten, am Ende erschien er. Als aber der Nachtschichter ihm mit der Leimrute nahe kam, zog er sich zurück und verschwand wieder im Tannenwald. So ging es drei Tage. Am dritten Abend lockte der Vogel den Nachtschichter den Berg hinauf und da ließ er sich fangen. Kaum hatte ihn aber der Nachtschichter in der Hand, so verwandelte sich der Vogel in eine wundersam schöne Jungfrau, die sah ihn so freundlich, so herzinnig an und sprach: »Ich sehe aus der Mühe, die du dir meinethalben gegeben hast, dass du mich gern haben willst, küsse mich, so bin ich erlöst, und du wirst glücklich.«

Dieser war aber blöde und schüchtern, wagte die schöne vornehme Dame, die in grünen seidenen Kleidern vor ihm stand, nicht anzurühren, noch viel weniger zu küssen und zog sich scheu und langsam zurück. Sie seufzte und bat und sah ihn so flehentlich an. Er war aber so dumm und erfüllt ihren Wunsch nicht. Da ging sie weinend fort und verschwand mit einem tiefen und lauten Seufzer im Wald. Kaum war sie aber verschwunden, so fing ihm sein Betragen an zu reuen, er wendete um, suchte sie, sie war aber nirgend zu finden.

Aus Gram, dass er das hübsche Mädchen nicht erlöst hatte, wurde der Nachtschichter krank und in neun Tagen war er tot. In seiner Krankheit hatte er die Geschichte erzählt. Bei der Beerdigung folgten viele junge Mädchen der Leiche, und als der Sarg hinabgelassen wurde, kam ein wunderschöner Vogel aus der Luft herab und fiel mit einem herzzerreißenden Pfiff in das Grab hinein. Alle Folger hatten es gehört und gesehen. Das war wahrscheinlich das unglückliche Mädchen gewesen und dadurch wurde sie auch erlöst.

Quelle: Sagen und Märchen aus dem Oberharz, gesammelt und herausgegeben von August Ey im Jahre 1862


1)
Mit Leim eingestrichene Ruten wurden schon in der Steinzeit zum Vogelfang verwendet. Früher wurde die klebrige Masse aus den Beeren der Mistel hergestellt, heute wird fast nur noch synthetisch hergestellter Leim verwendet. Meist werden Äste mit der farb- und geruchlosen Masse eingestrichen und um Beerensträucher oder Lockvogelkäfige postiert. Lange glaubte man, dass die festgeklebten Wildvögel unverletzt bleiben, wenn man sie früh genug befreit. Sie wurden dann als Lockvögel verwendet. Ließ man die Vögel zu lange an der Rute hängen, starben sie qualvoll und wurden verzehrt. Leimruten galten lange in Südfrankreich, Spanien, Italien und auf Zypern als traditionelle Fangmethode, die besonderen Schutz genoss. Quelle: Wikipedia