Sagen und Märchen aus dem Oberharz

Gesammelt und herausgegeben von August Ey im Jahre 1862

Vorwort

Harzmärchen, steinalt und nagelneu, wie du willst, lieber Leser, gebe ich dir hier zu lesen. Steinalt sind sie, weil sie schon lange, lange Jahre da waren, nagelneu, weil sie noch kein Mensch aufgeschrieben hat und drucken ließ. Just so, wie sie sich die Alten untereinander auf dem Harz oder ihren Kleinen sonst erzählten. Jetzt ist es damit vorbei, denn die Alten sind tot und die Jungen haben sie vergessen. Und hätte ich damals meine Harzmärchen den Alten nicht abgehorcht oder gleich so aufgeschrieben, so wären die meisten davon schon längst vergessen. Die Jungen glauben an solche wunderbare Begebenheiten nicht mehr, denn sie sind zu aufgeklärt, hören es aber immer gern, wenn ein hübsches Märchen erzählt wird, so recht einfach und sinnig, lebendig und lehrreich, recht und schlecht, sodass der Dumme und Kluge, der Reiche und Arme, der Vornehme und Niedrige dabei steht, horcht und am Ende sagt: »Etwas ist doch daran.« Ist die Geschichte auch nicht wahr, so lässt sie sich doch gut anhören. Ist sie auch einfach, ja manchmal zu einfach, es steckt doch manch wertvolles Körnchen für Gelehrte und Ungelehrte darin. Zwar nicht so, dass man es gleich mit Händen greifen kann; o nein, die Lehre spielt erst mit einem ein wenig Verstecken. Und jeder, der sie haben will, muss sie erst suchen. Das Kind hat es aber gleich weg, wenn es auch nicht sofort eine lange Rede darüber hält. Es hört es, behält es und benutzt es, wie es ihm gut dünkt. Genug, dass es seine Lust am Märchen hat und für sein Leben gern Märchen erzählen hört. Deshalb sind aber die Kinder auch die unparteiischsten Kritiker darüber und können leicht gut von schlecht zu unterscheiden. Vor ihrem Richterstuhl haben meine Harzmärchen die Feuerprobe bestanden und sind freundlich begrüßt. Dass ich dies Büchlein mehr zur Unterhaltung und Belehrung als zu wissenschaftlichen Forschungen bestimmte, wird jeder darin bemerken, der die Erzählungen bunt und wirr durcheinander aufgeführt findet, gleichsam wie den Strauß, welchen man auf blumiger Wiese und im duftenden Wald pflückt und ohne Ordnung zusammenbindet.

Schau dir das freundliche Märchensträußlein mit unparteiischem Sinn an. Gefällt es dir, lieber Harzbruder, dem die Heimat ans Herz gewachsen ist, und dir, guter Freund, der du fern unserem Gewirr wohnst, so ist er sein Zweck erreicht und meine Mühe belohnt; denn es nützt gewiss.

Den Herren vom Fach dann gebe ich die Versicherung, dass kein Märchenwerk bei Abfassung dieses Büchleins benutzt, kein Stoff dazu aus irgendeiner anderen derartigen Schrift genommen, sondern alles aus dem Mund des Volkes niedergeschrieben ist. Auch sage ich den Herren meinen herzlichen Dank, welchen mir beim Sammeln dieser Märchen behilflich waren.

So fliegt denn hinaus, ihr Schmetterlinge lustiger, ernster und ungekünstelter Volksfantasie und lasst euch in die blumigen Jugendgärten Deutschlands nieder. Erzählt dort von unseren Harzsitten und Gebräuchen. Erzählt dort, wie es sonst hier zuging und war. Erzählt dort, wie man sonst hier dachte, glaubte und handelte und wieder Aber- und Unglaube, boshafte Tat und gotteslästerliches Handeln hart bestraft, dagegen frommer Glaube, Tugendhaftigkeit und Rechtschaffenheit hoch geachtet und reich belohnt wurden. Geht hin und grüßt alle, zu denen ihre kommt, mit unserem schönen Gruß Glückauf!

Zellerfeld, den 20. November 1861

August Ey

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