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Warum die Espe bebt

  Nach dem Wendischen

Als der Herr Christus durch die weite Welt wandelte, kam er einmal mit seinen Jüngern in ein kleines Häuschen, um dort Herberge zu nehmen. Das kleine Häuschen gehörte einer armen Wittwe und die arme Wittwe wollte den Herrn gern beherbergen, aber weil sie doch so arm war, so konnte sie dem Herrn gar nichts zu essen vorsetzen. Der Herr aber sprach: „Sorge dich nicht, arme Wittwe, ich will für 30 Silberlinge Brod holen lassen.„

Und er fragte die Jünger, wer es holen wollte. Judas war geschwind bei der Hand und sagte: „Meister ich will gehen!“ Und der Herr gab ihm die 30 Silberlinge und Judas ging damit fort in die Judengasse, um Brod zu kaufen. Als er in die Judengasse kam, fand er dort unter einem Bottich eine Gesellschaft Juden sitzen, die spielten Karten und Würfel. Sie riefen dem Judas zu, er möchte doch mitspielen. Judas wußte nicht, ob er der Aufforderung folgen sollte oder nicht und sprach bei sich: „Setz' ich oder setz‘ ich nicht? Ich verliere doch Alles.„ Aber der Versucher gewann zuletzt den Sieg und er setzte von den 30 Silberlingen, die ihm der Herr anvertraut hatte, um Brod zu kaufen. Das erste Mal gewann Judas. Da setzte er alle 30 Silberlinge und gewann auch das zweite Mal. Zum dritten Male setzte er Alles zusammen, aber da ließ ihn der Teufel im Stich und er verlor die 30 Silberlinge sammt seinem Gewinne. Er war außer sich und wußte gar nicht, was er machen sollte. Die Juden aber sagten, sie wollten ihm die 30 Silberlinge wiedergeben, wenn er ihnen seinen Meister auslieferte und Judas nahm den Vorschlag an.

Als sie nun beim Abendmahl saßen fragte der Herr seine Jünger: „Welcher von euch hat mich verkauft?“ Sankt Johannes fragte: „Herr, o Meister, bin ich's?“ und auch Sankt Petrus fragte: „Herr, o Meister, bin ich's?“ und auch der falsche Judas fragte: „Herr, o Meister, bin ich's?„ Da sagte der Herr: „Judas, Judas, du falscher Judas, das weißt du am besten!“ Da stand Judas auf und lief in seiner Angst hinaus, um sich zu hängen. Der Herr Jesus rief ihm nach: „Kehre um, o Judas, deine Sünde ist dir vergeben und deine Strafe ist dir erlassen!“ Aber Judas hörte nicht darauf und lief immer fort, bis er in den Wald kam. In dem Walde stand eine Tanne, aber Judas ging weiter und sprach: „Dein Holz ist zu weich und meine Sünde ist zu schwer, du Tanne kannst mich nicht tragen.“ Und Judas lief immer weiter, bis dahin, wo eine Espe stand. Da blieb er stehen und sprach: „Dein Holz ist hart, o Espe, du mußt mich tragen können,“ und er hing sich auf an der Espe.

Aber von Stund' an fing die Espe an zu beben und zu zittern, und wird so beben und zittern bis zum jüngsten Tage.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862