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Hans der Gebissene

  Weißagk B.

Ein Vater hatte drei Söhne, wovon man den jüngsten, Hans, für den dümmsten hielt. Dem Vater wurde öfters in der Nacht aus seiner Scheune Getreide gestohlen; da sprach der alte Mann: „Kinder, wir müssen wachen, sonst wird noch unsere ganze Scheune leer.“ Die Söhne waren bereit. Da ging der Aelteste des Abends in die Scheune um zu wachen; er schlief aber bald ein und am andern Morgen war wie gewöhnlich Getreide gestohlen. Darauf sprach der Zweite: „Jetzt werde ich gehen, ich werde den Dieb schon fassen.“ Aber obschon er ausgegangen war, um zu wachen, schlief er ein und es fehlte am andern Morgen doch wieder Getreide. Endlich musste der Dritte auf die Wache. Der aber sprach: „Ich werde mich nicht in's Stroh legen und schlafen, sondern ich werde mich oben auf den Balken setzen, da werde ich schon wach bleiben.“ Er setzte sich auch auf den Balken und blieb wach. Als Mittemacht herangerückt war, kam ein mächtig grosser Riese mit einem ungeheuren Sack auf dem Rücken, füllte denselben mit Getreide und ging damit ab. Sogleich sprang der dumme Hans Von seinem Balken herunter und lief hinter dem Riesen her.

Sie kamen in einen grossen Wald. Hier stand der Riese plötzlich still, nahm einen Zauberstab und klopfte damit dreimal auf die Erde. Da that die Erde sich auf, so dass ein grosses Loch entstand. Der Riese kroch in das Loch hinein und der dumme Hans sprang ihm in das Loch nach. Dann gingen sie eine kurze Strecke vorwärts. Plötzich befanden sie sich auf einem grossen Platz. In der Mitte desselben standen zwei Häuser, ein grosses und ein kleines. Hans schlüpfte eilig in das grosse Haus und versteckte sich dort in einem Winkel. Von hier aus sah er, wie der Riese mit dem Sack in das kleine Haus ging. Nachdem derselbe in dem Hause verschwunden war, kroch Hans aus seinem Winkel hervor und guckte durch ein Fenster in das kleine Haus hinein. In dem Hause sah er sechs wunderschöne Pferde stehen; der Riese aber schüttete das Getreide den Pferden in die Krippen. Gleich darauf kam der Riese wieder heraus und ging in das grosse Haus. Hans schlich wieder schnell herbei und sah in dem Hause ein grosses Zimmer, worin ein mächtiges Bett stand; in das Bett legte sich der Riese. „Na,“ sagte Hans, „mag er nur erst schlafen, dann werde ich mir ihn schon holen.“ Es dauerte nicht lange, so schnarchte der Riese, dass die Fensterscheiben zitterten. Nun ging Hans in das Zimmer und trat leise an das Bett des Riesen heran. An der Wand sah er ein grosses, mächtiges Schwert, nahm es herab und schlug mit aller Gewalt dem Riesen den Kopf ab. Dann nahm er dessen Zauberstab und klopfte damit dreimal auf die Erde. Plötzlich befand er sich wieder in dem Walde. Darauf ging er schnell zu seinen Eltern zurück und legte sich in's Bett. Fortan wurde kein Getreide mehr gestohlen.

Kurze Zeit darauf hiess es, die Tochter des Königs sei vom Vogel Greif geraubt worden, und nun werde sie auf dem Greifenstein vom Greif und von einem Drachen bewacht. Man erzahlte auch, der Felsen sei ganz mit Glasplatten bedeckt, so dass er wie ein gläserner Berg aussehe, es könne ihn deshalb Niemand ersteigen; alle, die das versucht hätten, seien dabei umgekommen. Das hörte auch der Hans. Er machte sich heimlich auf, um sein Heil zu versuchen, denn der König hatte bekannt machen lassen, dass derjenige, welcher ihm die Tochter wiederbringe, sie heirathen solle. Hans nahm nun seinen Zauberstab, ging wieder in den Wald, schlug damit dreimal auf die Erde und befand sich plötzlich wieder unten bei dem grossen und kleinen Hause. Sogleich zog er ein Pferd aus dem Stall, legte die Rüstung des Riesen an und ritt darauf nach dem Glasberge. Schnell eilte er auf dem Pferde des Riesen den Berg empor, um zu sehen, wo die Prinzessin sei. Als er oben angekommen war, sah er den Greif und den Drachen mit feuerspeiendem Rachen. Die stürzten auch sogleich auf ihn los, aber sie konnten ihm nichts anhaben, da er den Panzer des Riesen angelegt hatte und dessen Pferd ritt; es dauerte auch gar nicht lange, so war sowohl der Greif, als auch der Drache im Kampf erschlagen. Erfreut kam die Prinzessin aus ihrem Versteck hervor, küsste den Hans auf die Backe und biss in dieselbe Tor Freude so tief hinein, dass ein Stück Fleisch herausfiel. Hans aber hielt sich bei der Prinzessin nicht auf. So schnell als möglich ritt er von dem Berge und kam bald wieder in den Wald, wo er das Pferd und die Waffen an ihren alten Ort brachte. Das Gerücht aber von seiner That verbreitete sich alsobald. Noch an demselben Tage holte der König, als er gehört hatte, der Greif sei erschlagen, seine Tochter vom Glasberge; alle diejenigen Menschen und Pferde aber, welche vom Glasberge gestürzt waren, liess er bestatten.

Am andern Tage sollte die Hochzeit des Erretters mit der Königstochter gefeiert werden. Alles war zur Hochzeit vorbereitet, viele Gäste waren erschienen, aber der Bräutigam kam nicht. Da weinte die Prinzessin sehr und sprach: „Einen andern als meinen Retter nehme ich nicht, wir wollen im ganzen Lande nach ihm suchen, zum Erkennungszeichen wollen wir das Stückchen Fleisch mitnehmen, welches ich ihm aus der Backe herausgebissen habe.“ Es war dasselbe nämlich so frisch geblieben, als wenn es erst soeben ans der Backe herausgebissen sei. Darauf machte sich die mit ihres Vaters Hofleuten auf, um den Bräutigam zu suchen. Aber es schien, als ob sie vergebens im Lande herumzogen, denn die Prinzessin fand an keinem jungen Manne die Narbe in der Backe. Endlich kamen sie zu dem Vater des Hans und fragten ihn, ob er auch Söhne habe, worauf der Bauer sagte: „Ja, die habe ich.“ Nun gingen sie in die Stube, um sich die Söhne des Bauers anzusehen. In der Stube waren nur die beiden Aeltesten, aber keiner von den beiden hatte die Bisswunde. Da fragte die Prinzessin den Bauer, ob er noch einen Sohn habe. Der Bauer sagte: „Ja, der sitzt aber hinter dem Ofen, der ist auch nicht auf dem Glasberg gewesen, dazu ist er viel zu dumm.“ Die Prinzessin aber sagte: „Ich will ihn doch lieber erst sehen.“ Darauf musste der Hans, welcher hinter dem Kamin sass, hervorkommen. Als die Prinzessin ihn sah, eilte sie voll Freude auf ihn zu, denn der Hans hatte die grosse Narbe in der Backe, und als die Prinzessin das Stückchen Fleisch an die Wunde hielt, siehe, da passte es vollständig darauf. Nun zog man dem Hans andere Kleider an und er musste mit an den Königshof, wo am andern Tag eine grosse Hochzeit gefeiert wurde. Der König aber liess den Tag darauf den Hans als seinen Nachfolger im ganzen Lande ausrufen.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880