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Die Jungfrau im See

  Papitz

Auf einer grünen Wiese, in der Nähe eines tiefen Sees, hütete einmal ein Knabe zwei Ochsen. Als es Mittag war, tauchte aus dem See plötzlich eine schöne Jungfrau, welche verwünscht war, auf. Die Jungfrau winkte dem Knaben und sagte freundlich zu ihm: „Eile schnell, lieber Knabe, und hole mir beim Bäcker ein frisches Brod.“ Der Knabe lief alsbald zum Bäcker nach dem Brod, kehrte aber, als er solches empfangen hatte, gemächlich damit zurück. Ehe er aber zu der Jungfrau kam, war deren Stunde vorüber. In den See versinkend rief sie ihm noch von ferne zu: „Leider, leider kommst Du zu spät; jetzt muss ich noch fernere hundert Jahre in dem See verweilen.“

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880