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Die goldene Kugel

  Bei Vetschau

Irgendwo im Lande stand einmal ein grosses Schloss, das war von einem Garten umgeben. In diesem Garten waren drei Brunnen, an den Brunnen sassen junge Mädchen und spielten mit goldenen Kugeln. Da fiel der Jüngsten die goldene Kugel in den Brunnen hinein. Sie fing darauf an zu weinen und sprach: „Wer bringt mir meine goldene Kugel wieder?“ Auf einmal rief eine Stimme hinter ihr: „Was giebst Du mir, dann hole ich Dir die goldene Kugel aus dem Brunnen?“ Darauf sagte das Mädchen: „Mein Bestes, was ich hab; ich will immer bei Dir sein.“ Darauf hörte sie die Stimme sprechen: „Nun, dann hole ich Dir die Kugel.“

Es war aber Niemand anders, als eine Kröte gewesen, welche so gesprochen hatte. Die Kröte sprang darauf in den Brunnen und brachte die Kugel. Den andern Tag, als Alle bei Tische sassen, klopfte es an die Stubenthür. Als der Diener aufmachte, hüpfte eine Kröte herein. Sie sprang sogleich auf den Stuhl und schrie: „Ich will essen.“ Darauf hüpfte sie in den Teller. Die Kröte frass, was die Jüngste ihr auf den Teller gelegt hatte. Nachdem sie fertig war, sprang sie mit einem Satze vom Tisch herab. Darauf blieb sie den ganzen Tag bei dem Mädchen. Als es Abend geworden war, sprach die Kröte: „Ich will auch in Deinem Bettchen schlafen.“ Mit einem Satz war sie in das Bettchen des Mädchens gesprungen. Das Mädchen war ärgerlich und schrie: „Geh hinaus,„ aber die Kröte rührte sich nicht. Da nahm das Mädchen die Kröte und warf sie an die Wand, dass sie zerplatzte. Auf einmal stand ein wunderschöner, junger Mann vor dem Mädchen und sprach: „Ich bin verzaubert gewesen, Du hast mich erlöst. Wenn Du mich heirathen willst, so soll morgen die Hochzeit sein. Mein Vater hat ein grosses Königreich, und ich bin sein einziger Sohn.“ Damit war das Mädchen wohl einverstanden, und am folgenden Tag ward die Hochzeit gefeiert.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880