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Das Todtenhemd

  Aus Haupt und Schmaler's wend. Liedern II. Anhang

Es war einmal ein alter Herr, der hatte eine schöne junge Frau. Und der alte Herr starb und ward begraben in seine gemauerte Gruft. Die schöne junge Frau nahm sich aber bald wieder einen jungen Herrn zum Ehegemahl und lebte mit ihm in großen Freuden auf dem hohen Schlosse, und sie hatten mit einander viele liebe Kinder. Da ging einmal der junge Herr auf den Kirchhof, und als er in die Nähe der Gruft kam, hörte er aus derselben eine Stimme, die sprach: Wer geht hier an meinem Grabe und zertritt das grüne, Gras? Der junge Herr antwortete: Es ist der junge Herr vom Schlosse, der zertritt das grüne Gras.

Da erhob sich die Stimme abermals und sprach: Sage du doch deiner jungen Herrin, daß sie mir mache ein anderes Todtenhemd. Hier in dem kann ich nicht liegen und verwesen, denn sie haben es Donnerstag Nachts angefangen zu nähen und Sonntag Nachts ist es erst fertig geworden. Ach wie erschrak da der junge Herr. Bitterlich weinend ging er hinweg und kam zu seinem hohen Schlosse. Und da schaute seine schöne Herrin zum Fenster heraus, und wie sie ihn so bitterlich weinen sah, fragte sie ihn: Ei du mein lieber junger Herr, was weinest du so sehr, sag' an, was fehlet dir? Ach, sagte der junge Herr, mir fehlet nichts, aber ich habe die Stimme des seligen Herrn gehört. Du sollst ihm nähen ein anderes Todtenhemd. Hier in dem kann er nicht liegen und verwesen, denn sie haben es Donnerstag Nachts angefangen zu nähen und Sonntag Nachts ist's erst fertig geworden.

Als die junge Herrin Solches gehört hatte, nahm sie sogleich aus ihrer Lade ein feines weißes Leinen und schnitt ein Hemd zu und nähete ämsiglich vom Abend bis zum Morgen, bis das Hemd fertig war; dann ging sie mit dem Hemde hin auf den Kirchhof. Und als sie in die Nähe der Gruft kam, da hörte sie auch die Stimme, die sprach: Wer geht hier an meinem Grabe und zertritt das grüne Gras? Und sie antwortete und sprach: Es ist die junge Herrin vom Schlosse, die zertritt das grüne Gras; sie bringt dir ein neues Todtenhemde, das zwischen Abend und Morgen fertig geworden. Und die Stimme sprach: Komm, steig zu mir hinunter in die Gruft und laß die Schlüssel oben liegen. Da ward es der jungen Herrin gar sehr wehe um's Herz, und sie fing an bitterlich zu weinen. Und die Stimme des alten Herrn sprach: Sag' an, was weinst du, junge Herrin? Ist dir's um dein hohes Schloß, ist dir's um den jungen Herrn, ist dir's um deine Kinder leid? Ach, nicht um mein hohes Schloß, nicht um meinen jungen Herrn, nicht um meine lieben Kinder, nur um's kleine Michelchen, das so still im Wieglein schlief, nur um's kleine Katharinchen, das so schön ihn hat gewiegt, nur um die zwei jungen Waisen ist mir's in der Seele leid.

Und als sie das gesagt hatte unter vielen Thränen, stieg sie hernieder in die Gruft, der Sarg des alten Herrn öffnete sich und er zog sie mit sich hinein und sie war todt.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862