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Das kleine Clausthal

Vor langen Jahren hatte neben dem jetzigen Clausthal ein Städtchen gelegen, welches sehr reich war und das kleine Clausthal genannt wurde. Aber je mehr der Wohlstand der Einwohner wuchs, umso gottloser wurden sie, und der liebe Gott mochte ihre Schlechtigkeit nicht länger ungestraft lassen. Deshalb bereitete er der Stadt mit allen ihren Bewohnern den Untergang. Ein Tal bezeichnet den Ort, wo das ruchlose Städtchen gelegen hatte. Dasselbe wird danach noch heute das kleine Clausthal genannt. Wo die Kirche gewesen war, ist nun ein Teich, aus welchem am Karfreitag um Mitternacht das versunkene Gotteshaus emportaucht. Um dieselbe Zeit jagt ein Reh mit seinem Kalb durch das Tal, aber niemand darf es wagen, danach zu schießen.

Von diesem wunderbaren Reh hatte auch ein Mann gehört, der als Wilddieb weit und breit bekannt und vor dessen Büchse kein Wild in der ganzen Umgegend sicher war. Schon lange war sein Sinn darauf gerichtet, das seltene Tier im kleinen Clausthal zu erlegen.

Als nun kurz vor Ostern in einer lustigen Gesellschaft abermals dieses Wildes Erwähnung geschah und die Rede ging, dass keiner es wagen würde, danach zu schießen, da lachte der Wilddieb laut auf und sprach: »Glaubt Ihr, dass ich so furchtsam bin und mir den schönen Fang entgehen lasse? Was gilt es: Ich schieße Euch das Reh mitsamt dem Kalb. Zum Osterfeiertag lade ich Euch alle zum Wildschmaus ein.«

Die Versammelten baten ihn um Gottes willen, von so lästerlichem Vorhaben abzustehen. Man wisse nicht, wie furchtbar sich ein solches Vergehen rächen würde. Der wilde Jäger aber spottete nur über solche Angst.

Als der Abend des Karfreitags herankam, ging er wirklich in das Tal. Als er sich dem Teich näherte, schien es ihm, als sei derselbe verschwunden. Dichter, undurchdringlicher Nebel, der bis zum Himmel hin aufstieg, lagerte auf dem Wasser und verbarg alles vor den Augen des Jagers. Bald hörte er aber ein Rauschen, ein geheimnisvolles Flüstern, und geisterhafte Wesen, Schatten gleich, huschten an ihm vorüber und verschwanden in dem Nebel. Jedem anderen wäre es unheimlich und ängstlich bei diesem gespenstischen Treiben zumute geworden, jeder andere wäre eilig davongerannt, aber der freche Wilddieb kannte keine Furcht, kein Grauen und schritt unbekümmert weiter.

Am Ausgang des Tales verbarg er sich hinter dichtem Gebüsch und harrte des Wildes. Nun war es Mitternacht. Fast auf die Minute rannte ein schlankes Reh mit einem Kalb durch das Tal. Mit fester Hand zielte der Wilderer, ein Schuss blitzte auf und getroffen sank das Kalb zu Boden, indessen das Reh eilig verschwand. Mit freudigem Ausruf stürzte der Jäger auf seine Beute, band die Füße des Tieres zusammen und hing es über seine Schulter.

Als er auf dem Rückweg an dem Teich vorbei kam, war aller Nebel verschwunden und vor den Augen des Wilddiebes erhob sich ein hell erleuchtetes Gotteshaus, aus dem Gesang und Orgelspiel zu ihm herüberschallte.

Verwundert rieb er sich die Augen und meinte, ein Trugbild äffe ihn.

Aber nein, klar und deutlich stand die Kirche, von hellem Mondstrahl beleuchtet, vor dem Staunenden. Der laute Gesang sagte ihm, dass es keine Täuschung sei.

»Ei, das ist wunderbar! Das Ding muss ich mir näher besehen«, sprach der Gottlose und eilte schnurstracks mit seiner Bürde auf dem Rücken in die Kirche.

In dichten Reihen saßen hier die Andächtigen, aber sie waren von so wunderbar verwittertem Aussehen, als hätten sie jahrelang im Grab gelegen. Auch ihre Kleidung war so seltsam, wie sie der Jäger nie zuvor gesehen hatte. Nachdem er verwundert sich im Kreis umgeblickt hatte, trat er näher zu den Bänken und grüßte die darauf Sitzenden; doch keiner erwiderte seinen Gruß. Einige schüttelten beim Anblick des Eindringlings den Kopf, winkten anderen und zeigten mit Fingern auf ihn. Unserem Wilddieb wurde es sonderbar zumute in dieser seltsam unheimlichen Gesellschaft, aber dennoch konnte er sich nicht entschließen, fortzugehen. Erst wollte er genau die eigentümliche Umgebung mustern. Neugierig betrachtete er den blauen Schein, den alle Lichter der Kirche ausströmten, die blauen Flammen, die aus dem Kelch hervorzüngelten, welcher auf dem Altar stand. Da erhob sich eine der verwitterten Gestalten, trat zu dem Wilderer und wies ihm die Tür. Der aber gehorchte nicht dieser Anforderung, trat im Gegenteil dichter zu einem der Anwesenden heran, um in dessen Buch zu sehen, damit auch er in den Gesang einstimmen könne.

Da erhob sich ein anderer und zeigte ihm wieder die Tür, aber der Jäger folgte auch diesmal nicht und neigte sich immer näher über das Buch, bis er sah, dass es eine fremde Schrift sei. Die geisterhafte Versammlung schloss nun geräuschlos die Bücher und blickte hinüber zum Altar, zu dem eben der Prediger herangetreten war. Alsbald begann derselbe zu reden, aber es war keine menschliche Stimme, welche die Kirsche durchhallte. Es war, als ob brausender Sturmwind und krachender Donner dieselbe erbeben machte. Aus dem Mund des Predigers aber loderten blaue Flammen hervor.

Durch einen fürchterlichen Krach wurde der Wilddieb aus seinem Staunen aufgerüttelt. Es war, als wolle die Erde untergehen.

Der Prediger vor dem Altar erhob die Hand, er wies auf ihn und schrie mit furchtbarer Stimme: »Verseuchter Sabbatschänder!«

Alle Gestalten erhoben sich gegen den Wilderer und heulten unheimlich und grässlich: »Verseuchter Sabbatschänder!«

Da ergriff eine furchtbare Angst den Gottlosen. Er stürzte zum Ausgang hin. Aber noch ehe er die Schwelle überschritten hatte, schlug die schwere Tür hinter ihm zu, ihm beide Fersen zerschmetternd.

Von Schmerz und Furcht erschöpft, brach er im Tal bewusstlos zusammen. Als ihm am nächsten Morgen die Besinnung zurückkehrte, lag der Teich ruhig vor seinen Augen. Lieblich spielten die Sonnenstrahlen auf dem Wasser, Ruhe und Frieden war rings umher. Mühsam erhob sich der Wilddieb, doch als er nach dem Kalb spähte, war es verschwunden. Kaum vermochte er sich nach Hause zu schleppen, so elend war ihm zumute. Von Tag zu Tag nahm seine Krankheit zu. Auf Befragen der seinen erzählte ihnen der Kranke, was er erlebt hatte. Nachdem er noch neun Tage furchtbar gelitten hatte, wurde er durch den Tod von seinen Schmerzen und Gewissensbissen erlöst.

Quelle: Im Zauberbann des Harzgebirges, Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann, Flemming, 1890