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Der König der Vögel

  Sielow

Einst beschlossen die Vögel, es solle derjenige von ihnen König sein, welcher am höchsten fliegen könnte. Deshalb stellten sie eines Tages ein Wettfliegen an. Es schien, als ob der Storch die Vögel besiegen werde. Er war nämlich so hoch geflogen, dass ihm kein Vogel hatte folgen können. Schon glaubte der Storch, er habe gewonnen, aber er sollte bald bitter enttäuscht werden. Der Zaunkönig hatte sich nämlich dem Storch auf den Schwanz gesetzt, ohne dass dieser etwas davon gemerkt hatte. Als nun der Storch nicht mehr höher fliegen konnte, verliess er plötzlich seinen Zufluchtsort und flog mit frischen Kräften in die Höhe. Darauf schrie er: „Ich bin der Höchste!“

Die Vögel wurden sehr böse, dass der kleine Vogel ihr König sein sollte. Deshalb sagten sie: „Der soll unser König sein, welcher den niedrigsten Ort einnehmen kann.“ Der Zaunkönig schlüpfte flugs in ein Mauseloch und rief: „Ich bin der Niedrigste!“ So hatte er wieder den Sieg davongetragen. Die Vögel waren nun so böse auf ihn, dass sie beschlossen, sie wollten ihn aus dem Loch nicht mehr herauslassen. Deshalb stellten sie als Wächter die Eule auf, welche dem Zaunkönig den Ausgang wehren sollte. Allein die Eule schlief zuletzt ein und der Zaunkönig schlüpfte aus dem Loche hervor. Fortan war er König. Von der Zeit an wandte sich der Hass der Vögel auf die Eule.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880