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Vom Verschwinden der Schlangen im Spreewald

  Burg

Im Spreewald sind früher so viel Schlangen gewesen, dass sie zur Landplage wurden. Die Leute haben sich zwar alle mögliche Mühe gegeben, dieselben zu vertreiben, aber nichts hat dagegen geholfen. Da ist ein Mann zu ihnen gekommen, der hat gesagt: „Ich will Euch die Schlangen vertreiben, aber eher nicht, als am ersten Mai.“ Darauf haben die Leute eine grosse Grube graben und quer über die Grube ein Brett legen müssen. Als der erste Mai gekommen war, da sagte der Mann zu dem ganzen Volke, das sich versammelt hatte: „Aus allen Himmelsgegenden werden Schlangen mit ihren Königen kommen. Sobald ich meine Zauberei beginne, werden sie auf mich losschiessen, dabei aber werden sie in die Grube fallen. Es kann nun sein, dass ich dabei auch hineinfalle. Geschieht dies, so muss ich sterben. Werft aber, wenn ich in der Grube bin, sogleich Erde hinein, damit mich die Schlangen nicht so sehr beissen.“ Als der Mann so gesprochen hatte, gingen die Bauern auf ein hohes Gerüst, welches sie erbaut hatten, um das Schauspiel mit anzusehen. Der Mann trat auf das Brett, welches über die Grube gelegt war, nahm eine Flöte und blies darauf eine wunderschöne Melodie. Dann neigte er sich dreimal nach allen vier Himmelsgegenden und blies wieder auf seiner Flöte.

Plötzlich liess sich ein seltsames Rauschen in der Luft hören. Dann kam eine ungeheure Menge von Schlangen aus allen vier Himmelsgegenden herbei. Voran waren die Schlangenkönige mit goldenen Kronen und unerhörter Pracht. Es war ein Gefunkel, wie die Leute noch nie gesehen hatten: Alles glänzte von Gold und Edelstein. Die Schlangen schossen auf den Mann zu, verfehlten ihn aber und fielen in die Grube. Aber eine oder die andere von den Schlangen muss ihn doch erreicht haben, denn plötzlich schrie der Mann auf und sank in die Grube. Da liefen die Leute eiligst mit Schippen und Spaten herbei, warfen die Grube zu und verschütteten alle Schlangen mitsammt dem Mann. Seit dieser Zeit sind die Schlangen aus dem Spreewalde verschwunden.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880