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Der Mutter Schooss

  Gahlen

Vor etwa zweihundert Jahren, als die Wenden in Gahlen und Missen noch katholisch waren, hat sich Folgendes in der Kirche zu Gahlen zugetragen. Ein junges Mädchen aus Missen heirathete einen Bauer aus Gahlen. Da der Bauer sehr reich und das Mädchen sehr schön war, so waren viele Menschen in die Kirche zu Gahlen gekommen, um die Trauung zu sehen. Die junge Braut kam, mit einem frischen Rosenkranze geschmückt, am Arme des Brautvaters in die Kirche und setzte sich vor dem Altar auf einen Stuhl. Nicht lange darauf nahete auch der Bräutigam und setzte sich an ihre Seite; die andern Hochzeitsgäste sassen im Halbkreise um das Brautpaar. Die Trauung sollte beginnen. Da kam plötzlich vom Altar her ein kleines Kind und setzte sich der Braut auf den Schooss. Dann sprach es: „Nirgend sitzt es sich so schön, als auf meiner Mutter Schooss.„ Die Braut erbleichte und riss den Kranz von ihrem Haupte. Sie sprach: „Das ist die Strafe für meine Sünde; ich habe heimlich ein Kind geboren und es getödtet.“ Darauf warf sie den Kranz weg. Der flog zur Thüre hinaus und blieb in der Nähe des Thurmes liegen. Dort schlug er Wurzeln.

Von Tag zu Tag wuchs der Rosenkranz. Endlich wurde ein grosser Strauch daraus, welcher noch zu Anfang dieses Jahrhunderts am Thurme zu Gahlen zu sehen war.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880