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Das Gerippe vom Kirchhof

   Saspow

In Saspow war einmal eine grosse Spinnte. Als es um die zwölfte Stunde kam, wurde ein Mädchen, welches für ganz besonders beherzt galt, aufgefordert, auf den Kirchhof zu gehen und zu bringen, was es dort fände. Das Mädchen machte sich auf und ging nach dem Kirchhof.

Als es zum Thore hinein kam, sah es nicht weit von sich etwas Weißes auf einem Grabe stehen. Das Mädchen ging darauf zu. Plötzlich stand es vor einer Gestalt, welche in weiße Gewänder gehüllt war. Ein dürrer Knochenarm ragte aus dem Gewände henror. Dreist, wie das Mädchen war, trat es an die Gestalt heran und riss ihr das Laken weg. Dann ging es mit demselben wieder in die Spinnstube.

Da klopfte es plötzlich an das Fenster und eine Stimme rief: „Gieb mir mein Gewand wieder.„ Erstaunt gingen Alle zum Fenster. Vor dem Fenster sahen sie ein Gerippe mit erhobener Hand stehen, welches nochmals sagte: „Gieb mir mein Gewand wieder.“ Darauf nahm das Mädchen einen Stock, legte das Gewand darauf und machte das Fenster auf, um es hinauszureichen. Aber die Stimme rief: „Nein, Du musst es mir selber umlegen und zwar auf demselben Fleck auf dem Kirchhof, wo Du es mir genommen hast.“

Das Mädchen hatte zwar erst keine Lust, das Gewand wieder nach dem Kirchhof zu tragen, aber schliesslich ging es doch mit einer Freundin zu der Stelle. Dort stand die Gestalt und winkte. Das Mädchen trat hinzu und legte dem Gerippe das Gewand um die Schultern. Die Freundin sah zu. Plötzlich waren das Mädchen und die Gestalt vor ihren Augen verschwunden. Niemand hat das Mädchen wieder gesehen.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880