<<< vorherige Sage | XXXIII. Die Todten | nächste Sage >>>

Von der furchtlosen Magd

  Werben

In Werben war eine Magd, welche vor Nichts Furcht hatte. So oft die Knechte sie zu schrecken versuchten, nie gelang es ihnen. Selbst wenn sich der eine oder andere von ihnen in ein weißes Laken einhüllte und auf dem Kirchhof hinter einem Leichenstein hervorkam, die Magd ging dreist auf die Gestalt zu und nahm die Mütze oder sonst ein Kleidungsstück, welches der Betreffende am folgenden Tage wieder holen musste.

Einstmals, als die Magd auf den Kirchhof kam, sass ein Männchen mit einem schwarzen Käppchen auf einem Grabe. Die Magd glaubte, es wolle sie wieder ein Knecht necken. Dreist ging sie deshalb auf das Männchen zu und nahm ihm das Käppchen ab. Darauf ging sie nach Haus. Aber in der Nacht klopfte es an ihr Fenster und eine Stimme rief: „Gieb mir mein Käppchen wieder.“ Sie aber erwiederte: „Hole es Dir morgen.“ Wieder rief die Stimme und wieder antwortete das Mädchen wie zuvor. Darauf verstummte die Stimme.

Das ging nun so viele Nächte hindurch, dass die Stimme sich hören liess. Endlich wurde das Mädchen doch furchtsam und reichte die Kappe zum Fenster hinaus. Das Männchen aber sprach: „Bring' mir das Käppchen dorthin, wo Du es genommen hast.“ Darauf ging das Mädchen zum Pfarrer imd klagte ihm seine Noth. In der folgenden Nacht begleitete der Pfarrer das Mädchen auf den Kirchhof. Kaum aber hatte dasselbe dem Männchen, welches auf dem Grabe sass, die Kappe hingereicht, so bekam es eine so furchtbare Ohrfeige, dass es todt zu Boden sank. Das Männchen aber war verschwunden.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880