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Die Wunderpflanzen des Valtenberges

  Dr. Pilk, Neukirch am Hohwalde 1889. S. 85 f.

Alljährlich am Himmelfahrtstage, wenn die Bevölkerung Neukirchs und der benachbarten Orte ihre uralt hergebrachte, jedenfalls noch aus dem Heidentume stammende Wallfahrt nach dem Gipfel des Valtenberges antritt, kommen Wenden, Männer und Frauen, mitunter weit aus ihrer nördlichen Heimat her gewandert, um auf genanntem Berge die Sprossen der Kuzłaŕnička“ (Hexenkraut oder Waldklette, Circaea lutetiana) zu pflücken. Diese sollen Menschen und Vieh sicher machen vor den Schäden des bösen Zaubers.

Ebenso erscheinen am Johannistage Wenden auf dem Valtenberge, um die Wurzel einer Pflanze zu graben, welche sie „swjateje Marcyne koruški“ (d. heil. Maria Wurzel), die Deutschen hiesiger Gegend aber „Marienbiß“ oder „Aalwurzel“ nennen. Aus der Wurzel genannter Pflanze schnitzen die Wenden Amulets, welche Wohlstand und Glück verleihen sollen. Einer solchen Glückswurzel“, die in Geheimnis sorgfältig gehütet werden muß, giebt man ungefähr die Form eines sehr kleinen Epheublattes ohne Stiel, auf dessen Oberfläche eine ebensolche, viel kleinere Figur sich plastisch abhebt. Einer der beiden Dreizacke wird als die Hand des guten Geistes gedeutet. Eigentümlicher Weise zeigt derselbe gegenüber der anderen, rasch verdorrenden und als Kralle des Čert (Teufel) bezeichneten Figur eine auffällige Frische. Begeben sich die wendischen Frauen zur Stadt, um ihre ländlichen Erzeugnisse feilzubieten, so werfen sie auf den Boden ihres Korbes den glückbringenden Talisman. Zauberkräftig ist letzterer aber nur, wenn er aus einer Pflanze des Valtenberges geschnitzt ist.

Am Johannistage, mittags zwischen 12 und 1 Uhr, schlüpft wohl zuweilen eine ältere Neukircherin an den Abhängen des Valtenberges, namentlich am sog. „Rattwitzer“ und Lichtwald„ dahin, um geheimnisvoll schweigend das „Wolfskraut“ zu erspähen. „Fette Henne“ (Sedum Telephium) ist der schriftgemäße Name der gesuchten Pflanze. Leise bückt sich die Frau und schneidet Stengel um Stengel davon ab, bei jedem Schnitt kaum vernehmbar einen Namen flüsternd. Es sind die Namen ihrer Lieben, für die sie je einen Schößling heimträgt. Sorgfältig merkt sie sich die nunmehr benannten Stengel und bindet dieselben, daheim angekommen, an dünnen Fäden an die Stubendecke, so daß die Spitze nach unten, das Schnittende aber nach oben sieht. Dem Familiengliede nun, dessen Stengel noch lange fortgrünt, ist ein langes Leben beschieden, demjenigen aber, dessen Wolfskraut bald verwelkt, ist sein Ende nicht mehr fern.

So lauten die Sagen von den Wunderpflanzen des Valtenberges.

Quelle: Sagenbuch der Sächsischen Schweiz; Herausgegeben von Alfred Meiche, Leipzig 1894, Verlag von Bernhard Franke