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Zu Kloster Corvey

Es hat dieses Kloster von Gott, unter andern, diese sonderbare Gnade gehabt, daß, so oft als einer von den Brüdern sterben sollen, er, drei Tage zuvor, ehe dann er verschieden, eine Verwarnung bekommen, vermittelst einer Lilie an einem ehrnen Kranze, der im Chor hing; denn diese Lilie kam immer wunderbarlich herab und erschien in dem Stuhle desjenigen Bruders, dessen Lebensende nahte, also, daß derselbe dabei unfehlbar merkte, er würde in dreien Tagen von der Welt scheiden.

Dies Wunder soll etliche hundert Jahre gewährt haben, bis ein junger Ordensbruder, nachdem er dadurch gleichfalls an sein Sterbestündlein ist erinnert worden, solche Erinnerung verachtete und die Lilie in eines alten Religiosen Stuhl versetzet hat, der Meinung, es würde das Sterben dem Alten besser anstehen, als dem Jungen. Wie der gute alte Bruder die Lilie hat erblickt, ist er darüber so hart erschrocken, daß er in eine Krankheit, doch gleichwohl nicht ins Grab, gefallen, sondern bald wieder gesund, hingegen der junge Warnungs-Verächter am dritten Tage durch einen jählingen Tod dahin gerissen worden.

Quelle: Johann Gustav Gottlieb Büsching: Volkssagen, Märchen und Legenden, Leipzig, Reclam, 1812,