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Das böse Ufer bei Muskau

  G. Liebusch, Sagen und Bilder S. 15.

Im Neißthale bei Muskau ist eine tiefe unterwühlte Uferstelle, die heißt das böse Ufer. Dort hat sich einst Folgendes zugetragen. Ein Mann aus einem benachbarten Dorfe hatte den ganzen Tag im Walde Holz gefällt, und als der Abend nahte, ging er seiner Hütte zu. Da sah er plötzlich, wie über die Haide hin ein langer weißer Nebelstreif grade auf ihn loszog. Dem Landmann graute. Er beflügelte seine Schritte. Aber der Nebelstreif war schneller als der Mann und als er ganz nahe kam, so legte er sich gleich einer langen weißgekleideten Menschengestalt ihm auf die Schultern.

Da erkannte der Mann, daß es die Pest sei. Centnerschwer lag es auf seinem Haupte, seinen Schultern, drückte ihm die Brust, daß er vor Angst nicht wußte, wohin er sich wenden sollte. Er eilte vom Thale zum Hügel, vom Hügel auf das Feld, aber der entseßliche Druck ließ nicht nach und die weiße Nebelgestalt wich nicht von ihrem Opfer. Verzweiflung erfaßte den Mann. Im Dorfe schlug es Mitternacht. Da stand er auf einem Hügel, seiner Hütte gegenüber. Dort schlummerte fein blühendes Weib und seine lieben Kinder in der Fülle der Gesundheit. Er durfte ihnen nicht nahen, er wußte, daß er den Seinen, daß er dem ganzen Dorfe die entseßliche Pest brächte. Händeringend stürzte er zurück in's weite Feld. Es wuchs die Angst und der Schmerz, aber auch die Sehnsucht nach den Seinigen nahm zu. Da kam er an die Neiße vor das böse Ufer. Voller Verzweiflung wollte er sich in die Tiefe des Flusses stürzen, um sich und seine fürchterliche Last in den Wellen zu begraben. Da endlich ließ das Gespenst von ihm ab, die Brust wurde freier, er athmete auf, und wieder zog ein Nebelstreif über die Haide, aber er zog von ihm weg, zog bis an einen nahen Hügel.

Der Berg that sich auf und die Pest zog hinein. Der Landmann aber eilte in den Strahlen der aufgehenden Sonne in seine Hütte und in die Arme der Seinigen.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862