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Der Rabe zu Merseburg

  Poetisch dargestellt von Ziehnert Bd. I. S. 140 etc. 
  S.a. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 354. 
  Gemeinnütziges Unterhaltungsblatt zu Von Pfaffenrath's und Löwe's Landwirthschaftl. Dorfzeitung 1843 No. 8.

An vielen Häusern der alten Stadt Merseburg, z.B. in der St. Gotthardsgasse sieht man noch heute über den Thüren einen Raben in Stein gehauen, der einen Ring im Schnabel hält. Den Grund zu diesen Bildern soll aber folgende Begebenheit gegeben haben.

In den Jahren 1466 bis 1514 war Thilo von Trotha Bischof von Merseburg. Dies war ein strenger jähzorniger Mann, der sich zu seinem Vergnügen einen Raben hielt, der ihm durch sein lustiges Gebahren und Schwatzen viel Spaß machte. Einst war nun dem Bischof ein kostbarer Ring weggekommen, den er angeblich von seinem Busenfreunde, dem Bischof Gerhard von Meißen, zum Geschenk erhalten hatte. Nun hatte der Bischof einen schon im Greisenalter stehenden, seiner Rechtschaffenheit wegen allgemein geachteten Kammerdiener und einen etwas jüngern Leibjäger. Letzterer trug aber schweren Groll gegen erstern im Herzen, weil er glaubte, daß jener ihn verhindere, so wie er es wünsche in der Gunst seines Herrn zu steigen. Derselbe hatte dem Raben verschiedene Worte gelernt, unter andern auch den Spruch: »Hans Dieb«, und als nun der Bischof, nachdem er den Diebstahl erfahren, außer sich vor Zorn alle seine Leute streng befragte, um den Dieb herauszubekommen, da schrie der Rabe auf einmal: »Hans Dieb, Hans Dieb!« Unglücklicher Weise hieß der alte Kammerdiener Johannes und der Bischof hielt den Spruch des Vogels gerade in diesem Augenblick für ein Gottesurtheil; trotz alles Leugnens und Betheuerns seiner Unschuld ward der Greis ergriffen, ins Gefängniß geworfen, vor das bischöfliche Gericht gestellt und lediglich auf den durch das Vogelgeschrei erregten Verdacht hin verurtheilt und hingerichtet.

Einige Zeit nachher aber trug es sich zu, daß bei einem heftigen Sturme das Nest des Raben vom Thurme herabstürzte; darin fand sich mancherlei güldenes und silbernes Kleinod, aber auch des Bischofs Ring, um den der fromme Kammerdiener unschuldig hingerichtet worden war. Das traf des Bischofs hartes Herz wie ein Blitzstrahl und es ergriff ihn eine bittere Reue wegen seines Jähzorns, der ihn zu dem ungerechten Urtheil veranlaßt hatte. Er legte also sein bisheriges Familienwappen ab und nahm ein neues an, d.h. er setzte in das Schild einen Raben, der einen Ring im Schnabel trug, und oben aus der Krone hoben sich als Helmkleinod zwei Arme und Hände, deren Finger einen Ring faßten.

Dieses Wappen ließ der Bischof überall anbringen, damit es ihn stets an seine Unthat erinnern möge und zu steter Buße mahne, innen und außen am bischöflichen Palast, im Dome, an den Mauern, in den Zimmern, auf den Gängen, auch an vielen Häusern der Stadt. Dasselbe Wappen und über demselben das Bild des hingerichteten Kammerdieners mit aufgehobenen Händen ohne Kopf erblickt man auch an dem messingenen Grabdenkmale, welches ihm im Dome zu Merseburg errichtet worden ist. Zum ewigen Andenken an diese Begebenheit wird noch heute ein Rabe in einem stattlichen Käfig auf dem äußern Schloßhofe zu Merseburg gehalten. Der Wärter desselben genießt dafür eine Pension von 12 Scheffeln Korn und 12 Thalern Geld, muß aber dafür, wenn der Rabe stirbt, einen andern anschaffen.

Quellen: