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Wie Eulenspiegel auf einem Seil gehen lernt und in die Saale stürzt

Als Claus Eulenspiegel tot war, glaubte seine hinterlassene Witwe Anna nun ihren Sohn ein Handwerk lernen lassen zu müssen. Aber hier ging es, wie man zu sagen pflegt, wenn die Katze nicht zu Hause ist, so tanzen die Mäuse auf den Bänken. Till Eulenspiegel war froh, dass sein Vater tot war, denn nach seiner Mutter als einem alten schwachen Weib hörte er nicht viel. Ein ordentliches Handwerk zu lernen, dazu hatte er keine Lust. Wohl aber dachte er mit allem Fleiß darauf, wie er Meister in allen nur möglichen Possen, Torheiten und Neckereien werden möge. Seine Mutter wohnte jetzt in einem Haus, dessen Hof zur Saale hinging. Hier, dachte sie, habe sie ihren Buben vor Augen, weil er hinten durchs Haus nicht entwischen konnte, denn sie war allen seinen Schelmereien äußerst feind und sehr bekümmert wegen ihres verdorbenen Kindes. Obwohl Eulenspiegel dieses wohl wusste, so dachte er dennoch darauf, wie er alle Tage etwas Neues von Schelmereien ausbrüten konnte. Eines Tagen, als die Mutter am wenigsten es dachte, ging er auf den Hausboden, nahm ein dickes und langes Seil, machte das eine Ende auf dem Boden fest, warf den anderen Teil des Seiles hinunter, machte sich in einem kleinen Kahn über die Saale mit dem Seil zu einem dort stehenden Haus und machte das Seil auch auf dessen Boden fest. Dann spazierte er auf dem Seil über die Saale hin und her. Dieses noch nie geschehene Kunststück erfuhren bald alle Bewohner im Dorf, und Alt und Jung eilte herbei, um dies neue wunderbare Schauspiel mit anzusehen. Indessen war seine Mutter nicht so wohl damit zufrieden, sondern nahm einen langen dicken Stock, ging auf den Boden an das Fenster und begrüßte den Seiltänzer unerwartet und so lange, wie sie ihn erreichen konnte. Als Till aber wieder mitten auf dem Seil war, schnitt seine Mutter das Seil auf ihrem Boden ab, und der Künstler fiel in die Saale. So wäre aus dem Spaß beinahe ein Unglück geworden. Doch raffte sich Eulenspiegel im Wasser schnell auf und kam unter großem Gelächter der Zuschauer wieder aus seinem gefährlichen Bad heraus. Dass er aber von den Zuschauern tüchtig ausgelacht wurde, verdross ihn sehr, denn jeder gönnte ihm den Lohn seiner Vorwitzigkeit. Er dachte aber darüber fleißig nach, wie er diesen den Spott wieder vergelte, da sein erstes Meisterstück so übel belohnt wurde.

Quelle: Till Eulenspiegel in 55 radierten Blättern von Johann Heinrich Ramberg, mit Text nach der Jahrmarkts-Ausgabe. Verlag C. B. Griesbach. Gera. 1871