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Der gute Christian

Es war einmal eine traurige Zeit für Blankenese. Kein Fisch ging mehr ins Netz, keiner biss mehr an die Angel; das Korn auf dem Feld verdorrte und wurde welk, die Obstbäume standen leer, Kühe und Schafe trockneten aus, die Pferde wurden lahm, es herrschte der bitterste Mangel. Je weiter es in dem Jahr gegen den Herbst kam, je ärger wurde es. Eine Scheune und ein Stall nach dem anderen brannte ab, so wie Korn und Vieh eingebracht waren. Selbst die kleinen Kinder wurden nachts vor dem Bett der Eltern aus den Wiegen gestohlen, obwohl man Türen und Fenster gut verwahrt hatte und sie nachher auch immer noch fest verschlossen fand. Was die Ursache dieses Unglücks war, wusste niemand zu sagen, niemand wusste auch Rat. Der Ort war dem äußersten Elend nahe. Da entdeckte endlich durch Zufall ein Hirtenbursche, wie es damit stand. Er war gegen Abend vor Müdigkeit am Abhang des hohen Sülberges eingeschlafen. Erst um Mitternacht erwachte er und wollte eben schnell zum Dorf zurückkehren, als er zu seinem Schrecken den Berg sich auseinander tun und ein altes, hässliches Weib aus der Spalte hervorkommen sah. Eine Weile stand sie noch auf der Spitze des Berges still und sah sich nach allen Seiten um, dann stieg sie hinab und ging dem Dorf zu mit den Worten: »Nun, ich will hin und will allen Kühen und Pferden die Schwänze abschneiden. Das soll morgen einen hübschen Spektakel geben.«

Der Hirtenjunge hatte sich aus Furcht hinter einen Busch verkrochen und flach auf den Bauch niedergelegt, um nicht von der Hexe gesehen zu werden. Kaum aber war sie fort, so eilte er dem Strand zu, machte ein Boot los und fuhr auf die Elbe hinaus, denn ins Dorf wagte er sich nicht, weil er der Hexe leicht begegnet wäre. Am Morgen aber ruderte er wieder zurück, weckte die Leute und erzählte, was er gehört hatte. Da sah man nun in den Ställen nach. Kein Pferd und keine Kuh war verschont geblieben. Später fand man die abgeschnittenen Schwänze unten am Ufer liegen.

Nun dachten die Blankeneser darauf, wie am besten dem Unheil abzuhelfen sei. Die heilige Christnacht wurde zur Ausführung des Planes ausersehen. An der Stelle des Berges, wo der Hirtenjunge die Hexe hatte herauskommen sehen, wurde ein großer Holzstoß errichtet und viel Stroh zusammengetragen. Am Abend ver­sammelte sich das ganze Dorf, Alt und Jung, am Fuße des Berges mit dem Pastor aus Niensteden an der Spitze. Der gute Christian, wie der Hirtenjunge hieß, stand allein in der Nähe des Scheiterhaufens mit einer brennenden Lunte in der Hand. Als nun die Uhr zwölf schlug, so fing es in dem Holzstoß an zu rasseln, mehrere Stücke fielen auseinander, und in einem Augenblick stand die Hexe vor ihm. Sogleich steckte der Bursche die Lunte in das Stroh, und in demselben Augenblicke stimmten die Leute unten am Berg einen Gesang an und kamen immer näher heran. Der Scheiterhaufen stand bald in hellen Flammen; deshalb konnte die Hexe nicht zurück in den Berg. Gegen den Pastor und den Gesang konnte sie auch nicht ankommen und dem guten Christian konnte sie nichts anhaben, weil er erst eben das Abendmahl genommen hatte und reinen Herzens war. Die Blankeneser kamen unterdessen immer näher und näher in einem Kreis auf sie zu und drängten sie so endlich in die Flammen. Da musste sie elendiglich verbrennen. Die Stelle, wo dies geschehen war, blieb bis auf diesen Tag kahl und öde, kein Halm wächst darauf, aber die Geschichte vom goden Krischan ist noch in Blankenese und der ganzen Umgegend wohl bekannt, denn er war es, der das Dorf von der Plage befreite, sodass es wieder zu seinem alten Wohlstand kommen konnte.

Quelle: Oskar Ebermann, Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten, Verlag Hegel & Schade, Leipzig