<<< vorherige Sage | XVI. Die Riesen | nächste Sage >>>

Der Sohn vom Riesenkönig (Märchen)

  Ströbitz

Es war einmal ein Riesenkönig, der gab seinen Sohn in Hamburg auf die hohe Schule. Der Sohn lernte tüchtig; als er wieder nach Hause kam, konnte sich der Vater über ihn freuen. Einst jedoch klagte er seinem Vater, dieser habe ihn nicht lernen lassen, wie man es auf der See treibe. Der Vater sagte, auch dazu werde er ihm Gelegenheit geben. Er liess ein Schiff mit Glaswaaren beladen und seinen Sohn damit eine Fahrt nach Amerika machen, um die Waaren dort zu verkaufen. Der Sohn des Riesenkönigs bestieg das Schiff. Als er glücklich in Amerika gelandet war, begab er sich sogleich zu dem Gesandten seines Reiches; diesem verhandelte er die Waaren, welche der Gesandte gern nahm, da es in Amerika keine Glaswaaren gab. Der Gesandte liess einen Wagen mit diesen Waaren beladen, den Wagen aber mussten zwei schöne Mädchen, welche nackt waren, ziehen. Die Mädchen gefielen dem Sohne des Riesenkönigs so gut, dass er sich dieselben von dem Gesandten erbat. Dieser willigte ein, füllte das Schiff mit Goldstaub und gab darauf dem Sohne des Riesenkönigs die beiden schönen Mädchen, welche derselbe zu seinen Frauen machte. Darauf segelte er wieder nach seiner Heimath zurück. Er hatte zwar Furcht, sein Vater möchte über seine beiden Frauen böse werden, allein derselbe hatte schliesslich nichts dagegen, dass sein Sohn mit ihnen lebe.

Die eine von den beiden Frauen beschenkte den Sohn des Riesenkönigs bald mit einem Sohne, was sein Glück nur vermehrte. Eines Tages aber traf er seine Frau, wie sie ihr Zimmer schwarz verhängte. Er fragte sie nach dem Grunde; endlich gestand ihm diese, sie sei eigentlich die Kronprinzessin von England und einst nach Amerika geraubt worden. Darauf gab sie ihrem Gatten ein Tuch und forderte ihn auf, sich nach England zu ihren Eltern zu begeben, um dort ihre Rechte zur Geltung zu bringen. Sie sagte ihm auch, wenn ihm etwas Böses zustossen sollte, so möge er in seiner Noth nur das Tuch zeigen, dann werde sich Alles zum Besten wenden.

Der Sohn des Riesenkönigs begab sich darauf nach England, allein Niemand wollte seiner Erzählung Glauben schenken, ja der König von England liess ein Schaffot errichten, damit der Sohn des Riesenkönigs wegen seiner Lügen darauf hingerichtet werde. Schon stand derselbe auf dem Blutgerüst und der Henker wollte eben Hand an ihn legen, da warf er das Tuch in die Höhe. Sobald der König und die Königin, welche der Hinrichtung beiwohnen wollten, das erblickten, liessen sie den Sohn des Riesenkönigs zu sich kommen und glaubten ihm Alles, nachdem sie auf dem Tuch das Wappen des Königs erblickt hatten. Sie liessen sogleich ein Schiff ausrüsten und forderten ihren Schwiegersohn auf, ihnen die Tochter zu bringen. Der Sohn des Riesenkönigs segelte froh der Heimath zu und fuhr, als er dort gelandet war, sogleich wieder mit Frau und Kind der Küste Englands zu.

Nun geschah es aber, dass er sich einmal an den Rand des Schiffes lehnte und in das Meer hinabsah. Den Augenblick erspähte der Kapitän des Schiffes, welcher sich in die Königstochter verliebt hatte, fasste ihn an die Füsse und warf ihn in das Meer. Darauf wandte er das Schiff und fuhr der Küste von Amerika zu, der Frau des jungen Riesen aber sagte er, ihr Gemahl sei über Bord gefallen und trotz aller Anstrengungen, die er gemacht habe, ihn zu retten, ertrunken. Allein der Sohn des Riesen war nicht ertrunken, sondern schwamm rüstig der Küste zu. Als ihm ein Balken im Meere entgegentrieb, schwang er sich darauf und gelangte glücklich an eine Insel nicht weit von England. Dort nährte er sich sieben Tage von Süssholz, welches auf der Insel reichlich wuchs; am achten Tage landeten Schiffer und brachten ihn, als er denselben sein Schicksal mitgetheilt hatte, wohlbehalten nach England. Sobald er dem König die schändliche Handlungsweise des Schiffskapitäns erzählt hatte, liess dieser seine schnellsten Schiffe rüsten und dem flüchtigen Schiffe nachsegeln. Es gelang auch den Leuten des Königs mit ihren Schiffen den Schiffskapitän und die trauernde Königstochter einzuholen, bevor sie noch in Amerika gelandet waren. Sogleich wandten sie ihre Schiffe der englischen Küste zu. Als sie in England angekommen waren, wurde über den Verbrecher strenges Gericht gehalten. Der Kapitän wurde auf demselben Schaffot enthauptet, auf welchem der Sohn des Riesenkönigs sein Ende hatte finden sollen. Das junge Paar aber lebte am Königshofe zufrieden und glücklich.

Quelle: Edmund Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche. Leuschner & Lubensky, Graz 1880