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Die gute Frau von Asseburg

Als auf der Burg Falkenstein das Geschlecht der Asseburg hauste, lebte dort einst ein Ritter dieses Stammes, der eine so fromme und gute Frau besaß, dass dieselbe weit und breit ihres Wohltuns halber geliebt wurde.

Einst, da ihr Gemahl fern im Kampf weilte, wurde die Burgfrau in der Nacht durch die Berührung ihrer Hand aus dem Schlummer geweckt. Als sie verwundert ob der Störung umherblickte, gewahrte sie ein kleines graues Männchen, das bittend die Hände zu ihr erhob. Erschreckt sah Helene von Asseburg auf die wunderliche Gestalt und war keines Wortes mächtig. Da begann der Zwerg in klagendem Ton zu bitten, die Burgfrau möge ihm das Eindringen in ihr Gemach verzeihen. Er würde es nie gewagt haben, wenn die Angst um das Leben seiner Frau ihn nicht dazu getrieben hätte. Die Arme wäre so schwer erkrankt, dass er nur von der Klugheit und der bekannten Güte der Burgherrin noch Hilfe erwarten könne. Wenn sie sich aber weigere, mit ihm zu gehen, wisse er nicht mehr, was er beginnen solle.

Die allzeit hilfsbereite Helene von Asseburg hatte kaum vernommen, dass es gelte, die Leiden einer Kranken zu lindern, als sie sich sofort bereit erklärte, dem Zwerg zu folgen.

Das war ein wunderbarer Weg, wie Helene noch keinen betreten hatte. Oft schauderte sie, wenn ihr Pfad durch enge Höhlen und graues Gestein ging, das nur durch einen matten Schimmer, der von der Felswand aus­ strahlte, erleuchtet wurde. Endlich führte der Zwerg sie in einen größeren Raum. Als ihre Augen sich an die lichtere Umgebung gewöhnt hatten, erblickte sie auf einem Lager eine bleiche, weibliche Gestalt, umgeben von vielen kleinen Frauen, die ratlos die Hände rangen.

Helene trat zu der Kranken. Mit der ihr eigenen Geschicklichkeit erkannte sie bald das Leiden derselben und wusste schnelle Hilfe zu leisten.

Als die Gegenwart der Burgfrau nicht mehr erforderlich war und sie sich anschickte, fortzugehen, erhob sich die Kranke auf dem Lager und bat ihre Wohltäterin, sie möge noch einmal zu ihr treten, denn so könne sie dieselbe nicht fortlassen.

Als Helene sich dem Lager der Gnomenfrau genähert hatte, übergab ihr diese drei goldene Kugeln und drei gläserne Becher und schärfte ihr ein, ja sorgfältig Acht auf dieses Geschenk zu geben; denn an der Erhaltung desselben hinge auch das Bestehen ihres Hauses. Solange diese Stücke im Besitz der Familie Asseburg seien, solange würde das Geschlecht ihrer Nachkommen in kräftiger Blüte stehen. Würden aber einst die Kugeln verschwinden und die Becher zerbrechen, dann wäre es auch um das Geschlecht der Asseburger geschehen.

Der Zwerg, der die Burgfrau hierher geführt hatte, leitete sie wieder zurück. Schon graute der Morgen, als Helene wieder ihr Gemach betrat. Vorsichtig verwahrte sie das bedeutungsvolle Geschenk unter ihren wertvollsten Schätzen; auch die nächsten Nachkommen hüteten die Gaben der Gnomenfrau mit ängstlicher Sorgfalt.

Jahrhunderte waren vergangen; das Andenken an das nächtliche Abenteuer ihrer Ahnfrau war in der Familie der Asseburger immer schwächer geworden. So geschah es, dass auch die Gaben der Gnomenfrau wenig beachtet wurden und die goldenen Kugeln verschwanden. Nur die Becher waren noch vorhanden. Sie befanden sich im Besitz einer Frau von Asseburg, welche im 17. Jahrhundert als Witwe auf dem Gut Wallhausen lebte, die Becher, getreu der Tradition, ängstlich hütete.

Einst feierte die Edelfrau ihren Geburtstag. Eine zahlreiche Gesellschaft hatte sich zu diesem Fest auf Wallhausen eingefunden. Auch die beiden Söhne der Frau von Asseburg, welche auf dem nahegelegenen Gut Brücken lebten, waren mit ihrem Freund, dem Junker Werther, herüber­gekommen. Wie immer taten die drei jungen Lente es allen Gästen an Heiterkeit zuvor. Durch den reichlichen Genuss der schweren Weine steigerte sich ihre Heiterkeit zur Ausgelassenheit. In dieser übermütigen Laune verlangte der Älteste der Söhne, seine Mutter solle die bewussten Becher bringen, damit er daraus auf ihr Wohl trinken könne.

Frau von Asseburg weigerte sich entschieden, das wertvolle Vermächtnis den ausgelassenen Söhnen anzuvertrauen; aber von allen Seiten darum gebeten, musste sie schließlich nachgeben.

Mit schwerem Herzen stellte die Burgfrau die Becher auf den Tisch und ermahnte die jungen Leute noch einmal zur Vorsicht. Die Worte der Mutter kaum beachtend, bemächtigten sich die beiden Söhne stürmisch der Becher, füllten sie bis zum Rand und stießen lärmend und lachend miteinander an. Da klirrte es und im Schreck verstummte das Lachen der Gäste, als sie den Becher des ältesten Asseburgers in Scherben am Boden liegen sahen. Auch die beiden Junker wurden von ahnungsvollem Grauen erfasst. Ihre Heiterkeit war plötzlich geschwunden, und obwohl sie sich bemühten, unbefangen und gleichgültig zu erscheinen, war es ihnen wohl anzumerken, wie schwer es ihnen wurde, den tiefen Eindruck zu verbergen, den das Geschehene auf nie gemacht hatte.

Die Festfreude war nicht wieder herzustellen. So entfernte sich denn bald einer der Gäste nach dem anderen.

Der Junker Werther und die beiden Asseburgs waren bis zuletzt geblieben. Als sie sich von der Freifrau verabschieden wollte, um in Werthers Wagen gemeinschaftlich nach Brücken zu fahren, bat die Mutter die jungen Leute inständig, in ihrem Haus zu übernachten. Bei dem bösen Wetter sei die Helme übergetreten, und leicht könne ihnen, zumal Werthers Pferde jung und wild seien, ein Unglück zustoßen. Doch die übermütigen Junker meinten, es sei schimpflich, sich vor dem Wetter zu fürchten, die Edelfrau sei nur durch das Zerspringen des Bechers so ängstlich geworden, und es sei doch töricht, sich solcher Aberglauben hinzugeben. Keck und waghalsig traten sie die gefährliche Fahrt an.

Mit Blitzesschnelle rollte der Wagen davon. Vorwärts ging es über Stock und Stein, und bald verlor der Lenker alle Macht über die feurigen Pferde. Anfangs freuten sich die jungen Lente der wilden Fahrt, bald aber sahen sie das Gefährliche ihrer Lage ein, denn der Weg nach Brücken war längst verloren und in der rabenschwarzen Nacht konnten sie die Gegend, welche die Pferde mit dem leichten Gefährt durchsausten, nicht einmal erkennen.

Plötzlich hörten sie das Rauschen der Räder im Wasser. Nun wussten sie, dass alles verloren war. Entsetzt schrien sie auf und klammerten sich verzweifelnd an den Wagen. Da – ein jäher Sturz und die Fluten der wilden, übergetretenen Helme verschlangen das Gefährt und seine Insassen.

In banger Ahnung hatte Frau von Asseburg die Nacht verbracht. Ruhelos war sie von einem Gemach ins andere geeilt und hatte in furchtbarer Angst in die stürmische, finstere Nacht hinausgespäht. Endlich brach der Tag an und die sorgende Mutter sandte in aller Frühe Boten nach Brücken, um Kunde von ihren Söhnen zu erlangen.

Welch ein Entsetzen, als diese ihrer Herrin nur die Leichen ihrer geliebten Kinder zurückbringen konnten.

Kaum ein Jahr war verflossen, da folgte die Mutter ihren Söhnen ins Grab. Der Gram über den Verlust derselben hatte ihrem Leben ein Ende gemacht.

Von den beiden anderen Bechern soll einer auf Falkenstein, der andere auf Hinneburg in Westfalen noch im Besitz der Asseburgischen Familie sein und sorgfältig gehütet werden.

Quelle: Im Zauberbann des Harzgebirges, Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann, Flemming, 1890