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Die Eisfrau von Ichstedt

  Wolf's Ztschfr. für deutsche Mythol. u. Sittenkunde III, 84 f.

Auf sagenberühmter Erde, südöstlich vom Kyffhäuser, liegt der freundliche Ort Ichstedt. Hinter dem uralten, viele Jahre hindurch von der Familie Wüsthoff bewohnten Schlosse steigt die Höhe hinauf der Schlossgarten, in welchem ein mannshoher schmaler Gang Aufmerksamkeit erregt, der in den Berg führend in ein grösseres Gemach, Eisloch genannt, endigt. Hier waltet nur Sonntagskindern erkennbar die Eisfrau. Silberfarbig ist ihr Haar, bleich das Gesicht, schneeweiss ihr langes Gewand; sie selbst ist lautlos, nur das Klirren des Schlüsselbundes, das sie am Gürtel trägt, kündigt ihr Nahen an. Um Mitternacht zeigt sie sich in der Nähe des Eisloches und auf dem Wege nach dem Schlosse, welches sie jedoch selbst nicht betritt; in dunkeln Nächten zündet sie sich auf einem Baume ein Licht an. Begleiter der Eisfrau ist ein silbergrauer Hase, der sich oft im Schlossgarten gezeigt hat, oft verfolgt wurde, aber immer zu dem Eisloche entkommen ist, wo ihn seine Herrin schüsst.

Die Eisfrau ist nicht nur ein nächtliches Gespenst, sondern hat auch am Tage Gewalt anzuziehen und abzuwehren. Noch vor kurzem wollte ein fauler Knecht am Eisloche vorüber gehen, lenkte aber unwillkührlich seine Schritte nach dem Eingange. Da gedachte er der Eisfrau und in Todesangst versuchte er zu fliehen, eine unsichtbare Hand aber zog und schob ihn vorwärts und stürzte ihn in das Eisloch, so dass er im Fallen einen Arm brach. Feldarbeiter hatten seinen Gang nach dem Felde bemerkt und kamen herbei; so ward er noch gerettet.

Aber die Eisfrau schreckt und straft nicht blos. Nordöstlich vom Eisloche befindet sich ein fortwährend mit Wasser gefüllter Erdfall, das Gründlingsloch - grundloses Loch- dessen Tiefe man auf 200 Fuss schätzt. Es nimmt namentlich bei starken Gewittergüssen eine ungeheure Menge Wassers auf, das es bis zu einem gewissen Höhepunkte durch unterirdische Kalkfelsenklüfte mit reissender Schnelligkeit weiter führt und so Ichstedt schon mehrmals vor Ueberschwemmungen geschützt hat. Aus diesem Gründlingsloche schöpft die Eisfrau Wasser, es ist ihr Brunnen, den sie gegraben hat, um verderbliche Wasszer abzuleiten. So ist die Eisfrau die wohlthätige Beschützerin Ichstedts.

Quellen: