<<< zurück | Sagenbuch des Preussischen Staates - Die Marken | weiter >>>

Der aus den Schalllöchern der Domthürme lugende Mönch zu Stendal

  Nach Weihe, Bd. II. S. 44 etc.

Der Churfürst von Brandenburg Joachim I., genannt Nestor, einer der ausgezeichnetsten Fürsten, die je gelebt haben, war ein großer Freund der Stadt Stendal, wo er sich häufig aufhielt und 1535 starb. Er war aber kein Freund der Reformation und verfolgte die Anhänger Doctor Martin Luther's gar eifrig. Wenn er in die Stadt kam, stieg er in der Domherrn-Curie ab, welche sich an den Thurm und an den Kreuzgang des hohen Doms lehnte; hinter der Curie aber war ein großer Garten und in demselben eine kleine Kapelle. Hierher ging er fleißig, las in seinem Gebetbuche und betete oft so laut, daß die Vorübergehenden es deutlich hören konnten.

Ihm zur Seite stand gewöhnlich bei den gottesdienstlichen Handlungen ein Pater aus dem Franziskanerkloster oben an der Weberstraße, unfern des Mönchenkirchhofes. Der mußte das Hochamt halten und vor einem Pulte stehend predigen. Wenn er aber allein beten wollte, dann hieß er ihn auf den Thurm steigen und Achtung geben, ob, wenn die Betglocke dreimal anschlug, die Christen auf den Straßen auch stillständen und zum Dreieinigen beteten und sich bekreuzigten. Dies that der Mönch auch gar gern, und wenn er, der Luchsaugen hatte, Einige sah, die nicht nach katholischer Weise beteten, und er sie kannte, was meistens der Fall war, so verrieth er sie dem Churfürsten und dieser strafte sie nun gar hart als Ketzer.

Dadurch ward aber der Mönch gewaltig bei dem Volke verhaßt und Alle, die er verrieth, wünschten ihm Böses auf den Hals und daß er nach seinem Tode als Verräther keine Ruhe finden solle. Nun sagt die Volkssage, dies sei in Erfüllung gegangen und man sehe ihn noch jetzt um neun Uhr früh, um zwölf Uhr Mittags und halb vier Uhr Nachmittags, so oft die Betglocke ertöne, aus diesem oder jenem Schallloche der Domthürme herauslugen.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 138-139