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Der Trommler zu Stendal

  Nach Weihe, Bd. I. S. 35 etc. 
  und Temme, Sagen der Altmark S. 7

Nach der Volkssage führte zur Zeit, als Brandenburg noch katholisch war, ein unterirdischer Gang vom wüsten Thurm der Marienkirche bis zum St. Annen-Kloster auf dem Mönchenkirchhofe oder nach Andern bis zum wüsten1) Domthurme. Man kann den Eingang zu demselben noch heute finden, wenn man von der Orgel aus den Thurm hinabsteigt. Am Fuße desselben stößt man zur Seite auf einen etwa fünf Fuß hohen, gewölbten und mit Nischen versehenen Gang, der sich immer tiefer in die Erde senkt, aber nicht weit verfolgen läßt, weil er, wenn man einige 30 Schritte weit hinein gekommen ist, sich als verschüttet erweist. Derselbe Fall ist es mit der Domkirche, wo ebenso aus dem wüsten Thurme ein Gang tief in die Erde führt.

Es soll nun im vorigen Jahrhundert der Stadtrath beschlossen haben, untersuchen zu lassen, ob dieser Gang wirklich bis zum Dome führe; man habe also einem auf den Tod sitzenden Missethäter, einem Tambour, die Wahl gelassen, entweder als Verbrecher auf dem Blutgerüste zu sterben, oder trommelnd das Labyrinth auszukundschaften, und falls ihm dies gelinge, auf freien Fuß gestellt zu werden. Er wählte, heißt es, nicht lange, sondern stieg muthig von dem wüsten Thurme des Doms aus in die Erde hinunter. Man hörte ihn noch trommeln unter dem ganzen Domhofe hinweg bis mitten in die Hallstraße, dann aber ward es stille und der Tambour ist nie wieder zum Vorschein gekommen.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 134-135


1)
Den Namen »wüste« haben diese Thürme darum bekommen, weil man sie wegen des beschwerlichen Hinaufsteigens ungern und nur selten zu besuchen pflegt. Nach Andern kommt der Name davon her, daß in beiden keine Glocken hängen, während doch jeder der beiden andern Schwesterthürme der Dom- und Marienkirche dergleichen besitzen.