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Die Bittschriften-Linde

  Nach K.v. Reinhard, Sagen und Mährchen aus Potsdam's Vorzeit, S. 210 etc

Friedrich II., dem bekanntlich Potsdam Alles, was in dieser Stadt schön und großartig ist, seine Paläste, Stiftungen und Manufakturen verdankt, bewohnte die Eckzimmer im Schloß nach der Teltower Brücke zu, von wo aus er die freundliche Aussicht auf die Havel und den Brauhausberg genießen und selbst von seinem Schreibtische aus vermittelst dreier Spiegel den Lustgarten, die Brücke und die ganze Umgebung des Schlosses übersehen konnte. Unter dem Fenster zunächst der Brücke steht eine alte Linde, die noch jetzt die Bittschriften-Linde genannt wird, weil an ihr diejenigen ihren Standplatz zu wählen pflegten, welche ein Gesuch in die Hände des Königs zu bringen wünschten. Sah sie der König hier stehen, so schickte er gemeiniglich herab, um ihnen die Bittschriften abnehmen zu lassen, allein zuweilen mußten die Bittsteller, welche nicht etwa blos aus Potsdam, sondern aus dem ganzen Lande dorthin zusammenkamen, lange stehen, und da sollen sie denn oft in der Angst ihres Herzens unbewußt in die Rinde des Baumes Figuren und Namen eingegraben haben und davon mögen wohl die halbverwachsenen Narben, welche einige Fuß von der Erde ringsum in der äußern Oberfläche des Baumes zu sehen sind, herrühren, der Volksglaube hat es sich auch nicht nehmen lassen, daß der König auch jetzt noch, umspielt von seinen Lieblingshunden, des Nachts als Schatten über die gewohnten Pfade der Terrasse von Sanssouci oder durch die Alleen im Rehgarten nach dem Neuen Palais zu dahinschwebe oder einsam und ernst an seinem Schreibtische sitze oder sich auch im Zwielicht oder Mondschein am Fenster seines Arbeitszimmers zeige.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 128-129;