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Die fliegende Frau

  Nach K.v. Reinhard, Sagen und Mährchen aus Potsdam's Vorzeit, S. 161 etc

Bevor das Christenthum sich über das nördliche Deutschland verbreitete, da war es die gute Frau Hare (oder Harke, Hertha), welche den Menschen Alles, was sie brauchten, gewährte. Zwölf Nächte nach dem kürzesten Tage flog sie über das waldige, schneebedeckte Land, und wo sie in den Häusern fleißige und geschickte Arbeiter fand, da zog sie ein durch irgend eine Oeffnung und segnete die Wohnung mit Glück und Freude für das nächste Jahr; wo sie aber Unreinlichkeit und Versäumniß sah, da bestrafte sie die Nachlässigen. Am großen Jul- oder Weihnachtsfeste opferte man ihr fette Schweine, überall ertönte der Ruf: »Frow Hare da vlughet« und lud die fliegende Frau zum Besuch ein. Als nun die christlichen Priester die heidnischen Götter vertrieben und die Tempel derselben brachen, blieb doch die gute Frau Hare, oder wie man sie später nannte, Holle im Lande und flog in den 12 Nächten vom heiligen Abend bis zum hohen Neujahr oder Dreikönigstag nach wie vor durch die Lüfte und besuchte die Häuser, namentlich auf dem Lande.

Nun lebte damals zu Grubow ein alter Schäfer, der hatte einen Sohn, der bei ihm als Knecht diente, aber schon verheirathet war und ein einziges Kind besaß. Zu diesem trat er am heiligen Abend, wie gerade die junge Frau vor der Wiege ihres Kindes saß, und ermahnte ihn, in diesen mit heute beginnenden 12 Nächten ja recht achtsam auf die Heerde zu sein und den Pferch wohl verschlossen zu halten, auch ihn (d.h. den Wolf) nicht zu nennen, damit er, da er umgehe, nicht böse werde, er solle den Keil für den Wagen der Frau Hare hauen und ihn auf die Schwelle legen, daß sie ihn finde, wenn sie ihn brauche, wo nicht, so solle er ihn später in den Wagen stecken, die Frau und die Magd sollten aber bis Groß-Neujahr den dicken Flachsknoten abspinnen, damit sie nicht von der Hare gekratzt und besudelt würden, die Frau solle keine Hülsenfrüchte kochen oder berühren, vor Allem aber das Kind hüten.

Der Sohn blieb nun bei den Schafen und die Frau vor der Wiege, der Alte aber ging hinaus auf den Voßberg vor dem Dorfe, sah sich nach allen Seiten um und hielt den naßgemachten Finger empor, um zu fühlen, woher der Wind wehe, denn Frau Hare machte die Witterung für das ganze Jahr in den 12 Nächten und jeder Monat ist ganz so, wie sein Tag zwischen Weihnachten und Groß-Neujahr. Der Ostwind wehte aber eisig von den Bergen und darum hielt sich der Alte nicht lange auf und eilte seiner Wohnung zu. Nun war aber sein Haus das erste im Dorfe; als er bald an dasselbe herankam, sah er ein großes zottiges Thier quer über den Acker nach dem Walde eilen, und als er an die Hausthüre kam, fand er dieselbe offen stehen. Er eilte in die Stube, doch sah er Niemand, die Kammer der Magd war verschlossen, das Kind in der Wiege aber fort. Seine Schwiegertochter hatte nämlich, sobald er fortgegangen war, der Magd aufgetragen, an ihrer Statt sich an die Wiege zu setzen und war in den Garten gegangen, um frischen Kohl bei dem Nachbar zu stehlen, denn man glaubte, daß wenn man dem Rindvieh in der Christnacht frisch gestohlenen Kohl zu fressen gebe, erkranke dasselbe in diesem Jahre nicht. Die Magd war aber auch nicht in der Stube geblieben, sondern war in ihre Kammer gegangen, hatte sich ganz nackt ausgezogen und so stillschweigend Alles, was darin war, gescheuert, denn wenn sie dies thue, hatte man ihr versichert, käme in dem Jahre ein Freier.

Der alte Schäfer stand verzweifelt und die Hände ringend in der Stube, denn er war überzeugt, daß der wesen:werwolf|Wehrwolf das Kind geraubt habe. Plötzlich aber stürzte seine Schwiegertochter leichenblaß ins Zimmer, in der einen Hand den Korb mit dem gestohlenen Kohl, im andern Arm aber mit dem in seine Windeln gehüllten Kinde. Sie erzählte, als sie über die Hecke des Nachbargartens gestiegen, habe sie einen großen Wolf auf sich zurennen gesehen, sie habe darüber einen lauten Schrei gethan und in demselben Augenblick habe sie gewaltiges Rauschen in den dürren Blättern der Bäume über sich gehört und einen dunkeln Schatten über sich hinschweben sehen, der Wolf habe dann das Kind aus seinem Rachen zu ihren Füßen fallen lassen und sei über den Acker dem Walde zu gelaufen. Da faltete der Schäfer andächtig die Hände und sagte: das war die gute Frau Hare.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 116-117