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Die Vexirlinde bei Hermsdorf

  Mündlich. 
  Nach Schön und Hüttig.

Eine Linde von mäßiger Stärke mit einer schönen Krone, welche am Wege von Görlitz nach Hermsdorf mitten im freien Felde steht, wird von dem Volke die Vexirlinde genannt und bei Nachtzeit sorgfältig von den Wanderern gemieden, weil sie die Eigenthümlichkeit hat, durch einen ihr innewohnenden Zauber die Leute, welche bei ihr vorbeigehen, so an sich zu bannen, daß sie bei Fortsetzung ihres Weges unvermerkt von ihrem Reiseziele abkommen und nach stundenlangem Umherirren immer wieder in ihrer unheimlichen Nähe anlangen. Zur Erklärung dieser wunderbaren Eigenschaft erzählte der alte Bauer, auf dessen Grundstücke die Linde steht, folgende Geschichte:

In der traurigen Zeit, wo die Hussiten über das böhmische Gebirge in die Lausitz hereinbrachen und Alles verwüsteten und ermordeten, war der Besitzer dieses Gutes, der Urahn des Erzählers, in die Görlitzer Haide geflüchtet und so den blutdürftigen Horden entronnen. Als diese sich entfernt hatten, kehrte er zurück und fand das ganze Dorf niedergebrannt und verlassen. Traurig an der Brandstätte seines Hauses nach der Gegend hinstarrend, wo die Linde steht, gewahrt er bei derselben eine menschliche Gestalt, in der weit und breit menschenleeren Gegend eine auffallende Erscheinung.

Er geht auf die Linde zu und findet eine fremde Bäuerin, die am Boden liegend mit den Händen im Rasen rauft und mit gräßlich verzerrten Gesichtszügen, weißen Schaum vor dem Munde und den Ausdruck des Wahnsinns im Auge den Ankömmling anstarrt. Schon wendet dieser sich vor Entsetzen ab, da legt sich plötzlich der Wahnsinn und, in einen Strom von Thränen ausbrechend, ruft sie den Bauer um Erbarmen an und erzählt ihm, wie sie fliehend vor dem grausamen Feinde von den Ihrigen getrennt worden sei und von aller Welt verlassen, von Hunger und Kälte halb verschmachtet, mitten im Walde ein Kind geboren habe, und sie, die Mutter, sie habe es, von sinnenverwirrender Verzweiflung überkommen getödtet; aber sie fühle auch ihr Ende herannaben.

Und so war es. Unter herzzerreißenden Gebeten zu Gott um Erbarmen mit der Kindesmörderin verschied die Unglückliche vor den Augen des Bauers. Der verscharrte sie an derselben Stelle unter der Linde, wo er sie gefunden; aber noch oft, wenn er des Abends an ihrem Grabe vorüberging, erschien ihm ihre Jammergestalt wimmernd und wehklagend.

Diese Geschichte aber hat sich von Kind zu Kindeskind in seiner Familie fortgeerbt bis auf den heutigen Tag.

Quelle: Karl Haupt, Sagenbuch der Lausitz, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862