<<< zurück | Hamburgische Geschichten und Sagen | weiter >>>

Des Kindes Gebet

(1701)

  Nur mit einer Abweichung ähnlich erzählt in von Heß, Topogr. II. 141. 
  Ueber das damalige Zuchthauswesen spricht Brock, Hamb. Werk- und Zuchthaus-Sachen 1808.

Im Hamburgischen Zuchthause war vor Alters ein strenges Regiment, wie kaum anders möglich, da es galt, eine Bande böser verdorbener Menschen im Zaum zu halten. Die Provisoren hatten den Grundsatz: daß der Stab Wehe den Züchtlingen zuträglicher sei, als der Stab Sanft und darnach wurde Stock und Eisen rechtschaffen gehandhabt. Es mag aber hin und wieder auch wohl ein armes Geschöpf, verleitet zum Verbrechen durch noch Schlechtere, in dies unselige Haus gekommen sein, und bei noch nicht völlig verderbtem Gemüthe, unsägliche Leiden bei solcher Behandlung und Genossenschaft erduldet haben. Lehre und Predigt zur Reue und Buße war genug da, – aber um ein zu Boden geschlagens Herz wieder aufzurichten, und seiner geringeren moralischen Verschuldung gemäß zu behandeln, dazu hätte es wohl des Stabes Sanft bedurft. Manch’ arme verirrte Seele mag darüber vollends in Sünde und Elend versunken sein, bis Gottes Ruf ihr das zwiefache Gefängniß öffnete und sie andere Bahnen wandeln hieß.

Da waren um 1701 von ebengedachter Art zwei arme Magdalenen im Zuchthause, noch jung an Jahren, von guter Herkunft und Erziehung, einst ihrer Eltern Freude und Glück! Weshalb sie hieher an diesen Ort gekommen, – Bosheit war’s nicht gewesen, – es ist gleichviel. Längst hatten sie ihr Fehlen reumüthig erkannt und reichlich gebüßt, aber der Stab Wehe und des ruchlosen Gesindels fürchterliche Gesellschaft, in der zu leben sie verdammt waren, brachte sie zur Verzweiflung. Ihres elenden Daseins, das ihnen schlimmer als Tod und Hölle schien, waren sie völlig überdrüssig. Aber um von diesem Jammer, von dem ganzen rettungslos verfehlten Erdenleben erlös’t zu werden, war’s ihrem irrenden Geiste nicht genug, Hand an sich selber zu legen. Ihrer kranken Einbildungskraft war es eine verlockende Vorstellung, wenn sie sich als arme Sünderinnen dachten, die zum Hochgericht geführt würden, von Herren, Pastoren, Soldaten und unzähligem Volke umgeben, die Heldinnen eines ungewöhnlichen ergreifenden Schauspiels, angestaunt ob ihres räthselhaften Verbrechens, bemitleidet wegen ihrer Jugend, ihres unglücklichen Geschickes! So weit kann die einmal irre gehende Seele sich verlieren. – Es schwebte ihnen auch vor, daß wenige Jahre früher zwei ebenso verzweifelnde Frauenzimmer im Zuchthause, um vom Kerker und Leben erlös’t zu werden, ein Kind gemordet hatten („aber nur ein kränkliches“), worauf sie hingerichtet wurden. Also faßten sie den ähnlichen Entschluß, zu morden, und sie wußten kein schicklicheres Opfer, als ein kleines vierjähriges Mägdlein, das mit seiner grundbösen Mutter ins Zuchthaus gekommen war, und oft unbeachtet umherlief. Vielleicht auch dachten sie, das arme Kind, an diesem Orte aufwachsend, unfehlbar der Sünde verfallen, vor dem größeren Unglück zu retten, und ein gutes Werk zu thun, wenn sie es so jung und unschuldig tödteten. Daß sie gleich nach der Unthat in ein anderes, einsames Gefängniß kommen würden, das wußten sie, und darauf freueten sie sich, wie auch auf die Verhöre und das peinliche Gericht. In welch’ einem Labyrinthe von sündlichen oder kranken Vorstellungen müssen sie – ohne den herausleitenden Faden – verloren gewesen sein, – welch’ Uebermaaß trostloser Qualen mag aber auch dazu beigetragen haben, sie einer solchen Verzweiflung zu überliefern.

Am Abend der heiligen drei Könige sollte es geschehen. Bevor es dunkelte, nahmen sie das willig folgende Kind mit sich in die Zuchthaus-Kirche, die immer vom Hofe aus offen stand. Sie waren entschlossen zur That. Die Eine setzte sich, nahm das Kind auf den Schooß und entblößte ihm den Hals, die Andere hielt ein verheimlichtes Messerchen schon in der Hand. Da plötzlich hebt das Kind, als es sich in der Kirche sieht, die kleinen Hände gefaltet in die Höhe, und beginnt leise und andächtig ein Abendgebet herzusagen. Und dies Gott geweihte Lallen der Unschuld trifft das Herz der Beiden allmächtig, und entwaffnet ihre Hand wie ihren Willen. Das gehobene Messer sinkt, die verwilderten Gedanken sammeln sich zur Einkehr in die Seele, in deren Nacht nun ein Lichtstrahl dringt. Die Eisrinde, welche das Elend um ihre Herzen gelegt hatte, schmilzt; eine Thränenfluth, als sie sich hervorgerungen, entströmt unaufhaltsam ihren Augen, und benetzt das Kindlein auf ihrem Schooße, das nun, da es gerettet ist, erschreckt aufblickt und ängstlich zu weinen beginnt. So findet man die Dreie, und erräth aus den Umständen den Zusammenhang, den die beiden Schuldigen willig bekennen.

Ihr weiteres Ergehen ist nicht mehr zu erkunden. – Aber können schon wir Menschen uns des tiefsten Mitleids mit diesen beiden Unglücklichen nicht erwehren, – so dürfen wir desto zuversichtlicher von Gottes Vaterliebe und Allmacht hoffen, daß er ihnen geholfen haben werde, in der für sie heilsamsten Weise. Denn vielfach und wunderbar sind seine Wege, und unendlich ist seine Gnade.

Quelle: Otto Beneke: Hamburgische Geschichten und Sagen. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke, 1854