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Der Flöter

Vor etwa vierzig Jahren fand sich in Hamburg auf einem Hof im Kirchspiel St. Margareten, der in der Nähe der Elbe lag, ein Spuk sehr sonderbarer Art ein. Viele Leute aus der Nähe und Ferne hatten sich davon überzeugt, und die Kinder und Kindeskinder des damaligen Hofbesitzers lebten noch lange, die Sache ist also noch in gutem Andenken. Im Süden des Hauses im Kohlgarten, wo auch einige Obstbäume standen, ließ sich zu einer Zeit ein Wesen hören, das sich durch beständiges Flöten kundgab. Bald näherte es sich dem Haus und allmählich drängte es sich ein. Das Haus wurde nun seine gewöhnliche Wohnung, und auf dem Boden, im Keller, in den Zimmern, überall ließ sich der Flöter hören. Zuweilen machte er auch in der Nachbarschaft Besuche. Die Leute wurden ganz vertraut mit ihm. Wollten die Kinder im Haus oder die Knechte und Mägde tanzen, so sagten sie nur: »Späel ins en Walzer so unn so, oder en Hopsa so unn so.« Gaben sie nur die Melodie an, dann spielte er gleich auf. Wenn das Mädchen im Keller war bei der Milch, so sagte sie oft: »Spael my ins enen, myn Jung’, du schast oek en Appel hebben!« Dann war ihr der Apfel gleich aus der Hand weg, und das lustigste Lied wurde aufgespielt. Niemand konnte das wunderliche Wesen zu Gesicht kriegen, wenn es gleich lange Zeit auf dem Hof sich aufhielt und es sich, sobald einer ihn nur aufforderte, auch sogleich hören ließ. Zuletzt aber wurde der Flöter immer zudringlicher, und oft zeigte sich seine üble Laune. Er konnte in einer Nacht alle Fenster einschlagen, brach in Küche, Keller und Kammer ein und stellte alles auf den Kopf. Mittags, wenn die Leute bei Tisch saßen, machte er mit unsichtbaren Händen die Schüssel vor ihnen leer in einem Nu. Wenn sie ihn dann auf jede Weise verfolgten und glaubten, ihn in einer Ecke fest zu haben, so pfiff er ihnen zum Hohn schon in der anderen. Es war zuletzt nicht mehr mit ihm auszuhalten. Der Bauer sprach allenthalben den Wunsch aus, dass einer sich finden möchte, der ihn von der Plage befreie; er wolle ihm ein gutes Stück Geld geben. Endlich erbat sich ein Mann aus Wilster, den Pfeifer ihm in seiner wirklichen Gestalt als Pudel zu zeigen und zu vertreiben. Der Bauer aber sagte, er wolle gar nichts sehen, hier habe er zehn Taler, er solle nur machen, dass der Unhold fortkäme. Durch sonderbare Sprüche und Zeremonien hatte dann der Mann den Geist fortgeschafft, und keiner hörte ihn danach im Haus wieder pfeifen.

Quelle: Oskar Ebermann, Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten, Verlag Hegel & Schade, Leipzig