<<< zurück | Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten | weiter >>>

Die Jungfrau Lorenz und der Hirsch zu Tangermünde

Es lebte vor langen Jahren zu Tangermünde eine holde Jungfrau, namens Emerentia Lorenz, die war ebenso gut wie schön, und die ganze Stadt war stolz auf ihre Jungfer Lorenz. Sie war aber auch sehr reich, denn außer einem Haus in der Stadt, das voll war von Kostbarkeiten und herrlichem Hausgerät, Betten und Weißzeug, gehörte ihr auch vor der Stadt ein großes Stück Wald und an dessen Saum gar viele lachende Felder. Nun geschah es, dass zu Anfang der Frühlingszeit, als die Sonne wieder mild und freundlich hineinlächelte in die erstarrte Welt und die Lerchen jubelnd dem jungen Lenz entgegensangen, Frühlingssehnsucht die Jungfrau hinaustrieb in die Waldeinsamkeit. Da es aber gerade um die Pfingstzeit war, so war niemand auf den Feldern, und die Jungfrau war ungesehen in den Wald getreten. In diesen ging sie immer tiefer hinein. Nachdem sie einige Stunden darin gelustwandelt war, kam der Schlaf über sie. Sie setzte sich ins Gras und schlief bald ruhig ein. Als sie wieder erwachte, war die Sonne schon ziemlich tief im Westen und sie dachte, es sei Zeit, heimzukehren. Allein da sie keinen Laut im dichten Wald hörte, fing ihr an, recht bange zu werden. Sie sehnte sich nach Hause. Sie schlug auch, wie sie glaubte, den richtigen Weg ein, allein, als sie eine Weile darauf fortgegangen war, kam ihr doch die Gegend weniger bekannt vor. Sie wurde zweifelhaft und ängstlich und fing an, einen anderen Waldpfad zu betreten. Aber sie kam nur noch mehr ins Dickicht, zuletzt war gar der Weg zu Ende. Sie musste sich gestehen, dass sie sich verirrt habe. Mittlerweile war es finster geworden, sie musste also die Hoffnung aufgeben, für heute nach Hause zurückzukehren, und sich entschließen, die Nacht im Wald unter freiem Himmel zuzubringen. Dies tat sie denn auch, warf sich laut weinend auf den Rasen. Obwohl sie den ganzen Tag keinen Bissen gegessen hatte, schlief sie doch bald vor Müdigkeit ein. Als sie erwachte, war der Morgen angebrochen, die Sonne glänzte durch die Gipfel der Bäume und alle Stimmen des Waldes wurden laut. Mit dem Tageslicht kehrte auch wieder Mut in ihr angsterfülltes Herz zurück. Sie machte sich von Neuem auf den Weg, um den ihr so wohlbekannten Pfad nach Hause zu suchen, allein es wurde Abend und sie hatte ihn noch nicht gefunden. Zwar hatte sie ihren Hunger durch einzelne halbreife Beeren zu stillen gesucht, jedoch als die Sonne abermals unterging, fühlte sie sich noch matter und schwächer als gestern. Sie sank in Verzweiflung zu Boden. Ein wohltätiger Schlaf raubte ihr das Bewusstsein ihrer schrecklichen Lage. Als aber der dritte Morgen anbrach, da hatte sie der Schlaf doch so weit erquickt, dass sie sich vornahm, noch einmal den Versuch zu machen, aus dem Walddickicht herauszukommen. Vorher aber betete sie inbrünstig zu Gott und tat das Gelübde, wenn er ihr den Ausweg aus dem Wald zeigen und sie in ihr friedliches Vaterhaus zurückführen wolle, werde sie sich ihm allein ergeben und Zeit ihres Lebens nur ihm allein dienen und sich nie vermählen. Kaum hatte sie dies ausgesprochen, da brach ein Edelhirsch durch das Dickicht und blieb im Lauf anhaltend vor der Knienden stehen. Furchtlos verharrte das herrliche Tier an ihrer Seite und schien sich gewissermaßen über ihre Anwesenheit an diesem Ort zu wundern. Zuletzt berührte er sie gar mit seinem Geweih und schien sie auffordern zu wollen, mit ihm fortzugehen. Als sie ihn aber nicht verstand, da ließ er sich auf die Knie nieder und lud sie anscheinend ein, sich seinem Rücken anzuvertrauen. Die erschrockene Jungfrau zögerte auch nicht, ihn zu besteigen und, o Wunder, das Tier trug sie mit sicherem Tritt durch den Wald bis an den Ausgang, da wo Tangermünde mit seinen Türmen vor ihr lag. Aber selbst hier machte der Hirsch noch nicht Halt, sondern er trug seine zarte Bürde furchtlos mitten durch das zusammenströmende Volk bis in die Straßen der Stadt und nahm seinen Lauf bis zur Kirche. Dort ließ er sich freiwillig auf die Knie nieder. Jungfrau Lorenz stieg ab und trat in das Gotteshaus, um Gott für die wunderbare Rettung zu danken. Der Hirsch aber hatte unterdessen ruhig vor der Kirchenpforte gewartet und begleitete sie von da wie ein frommes Lamm in ihr Haus, wo er von Stund an blieb. Zwar kehrte er manchmal auf Stunden in seine alte grüne Heimat zurück, allein nie blieb er lange weg. Da sie ihm ein Halsband angelegt mit der Inschrift Emerentias Hirsch hatte, so kannte ihn jedermann. Niemand in der ganzen Umgegend hätte gewagt, dem guten Tier etwas zuleide zu tun. Jungfer Lorenz aber blieb dem frommen Gelübde, das sie vor dem Altar der Nikolaikirche getan hatte, eingedenk, sie blieb unvermählt und gab das Lorenzfeld der Kirche zu erb und eigen für ewige Zeiten. In der Kirche ließ sie einen Hirschkopf auf­hängen, auf dem sie selbst in ganzer Figur dargestellt ist. Dieser ist noch vorhanden; zwar wurde die Kirche als Lazarett benutzt, und es sind im Zuge der Reformation alle anderen Bilder und Zierrate darin zerstört, allein das Bild der Jungfer Lorenz hatte kein Mensch von der Stelle zu rücken gewagt. Die Lazarettwächter hörten oft einen gewaltigen Lärm, der durch das ganze Gebäude drang, wenn es einmal einer wagte, auch nur an die Zacken des Hirschgeweihes zu fassen oder auch nur etwas daran aufzuhängen. Zwar ist jener Wald, der zwischen den Dörfern Grobleben und Vöhlsdorf lag, längst verschwunden, und statt der Bäume erblickt man auf seiner Bodenfläche nur lachende Felder und Wiesen, allein sein alter Name, das Lorenzfeld, ist ihm bis heute geblieben.

Quelle: Oskar Ebermann, Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten, Verlag Hegel & Schade, Leipzig;