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Die Ahnfrau auf den Ruinen der alten Burg zu Randau

Ungefähr eine Meile oberhalb der Stadt Magdeburg liegt auf einer Elbinsel das freundliche Rittergut Randau. Es wurde im Dreißigjährigen Krieg von den Kaiserlichen zerstört, später aber wieder aufgebaut. Früher ist aber jenes Dorf ein großer Flecken mit einem Ritterschloss gewesen, das im Jahr 1297 von den Magdeburgern von Grund aus zerstört wurde. Gleichwohl sind noch heute einige Trümmer der alten Burg übrig, die aber, wie jeder dort weiß, auf einer ganz anderen Stelle liegen als der einstige Rittersitz. Auf diesen lässt sich noch heute um die Mitternachtsstunde an gewissen Tagen im Jahr eine weiße Frauengestalt sehen. Das soll der Geist der Ahnfrau von Randau sein, nur weiß man nicht, welchem Geschlecht sie selber angehört hatte, denn von einer Familie von Randau weiß niemand etwas, und die Familie von Alvensleben, welche am längsten im Besitz des Rittergutes gewesen war, kann auch nicht gemeint sein, denn es ist immer nur von der alten, im oben genannten Jahr zerstörten Burg die Rede, und die Alvensleben haben erst später Besitz von dem Gut genommen. Die Sage erzählt aber, im Fahre 1297 hätte der damalige Magdeburger Schultheiß, namens Tiele Weske, mit einem großen Heerhaufen von Bürgern und Söldnern vor der Burg Randau gelegen, wo der Hauptsitz des Landadels gewesen sei, der damals mit der Stadt in Fehde lag. Nun hatte der Schultheiß mit einer Edelfrau, einer Gräfin von Barsch, die sich in der Burg aufhielt, ein Liebesverhältnis. Sie versprach ihm, ihn bei Nacht vermittelst einer Strickleiter in die Burg einzulassen. Auf diesem Weg gedachte er gleichzeitig seine Mitbürger hineinzubringen. Als er aber bereits in das Schloss eingestiegen war, wurden seine nachfolgenden Leute von den wachsamen Feinden überfallen und zurückgeworfen. Nun würde er wahrscheinlich auch ergriffen worden sein, wenn ihn nicht eine alte weißgekleidete Frau, die er nicht kannte, durch eine niemandem sichtbare Tür in ein kleines Gemach gerettet hätte. Von dort aus trat er am nächsten Morgen unbemerkt in das Gemach der Gräfin, die nichts von seiner Anwesenheit wusste, und teilte ihr mit, wer ihn in jenes Seitengemach geführt habe.

Da rief die Gräfin aus: »Das ist die Ahnfrau gewesen!« Sie fügte noch hinzu, diese erscheine nur solchen Menschen, denen ein großes Unglück bevorstehe. Durch ein Geräusch von näherkommenden Personen wurde der Schultheiß veranlasst, sich wieder in sein Versteck zurückzuziehen, wo ihm die Alte zum anderen Mal erschien und ihm versprach, er werde als Sieger in die Burg einziehen, wenn er sich fern von Frauenliebe halte. Wenn er dies aber nicht tue, werde er mit seiner Geliebten unter den Trümmern der eroberten Burg untergehen. Er versprach zwar, ihr folgen zu wollen, allein, da er in den folgenden Tagen immer wieder mit der Gräfin zusammentraf, so vergaß er bald sein gegebenes Versprechen und verabredete mit ihr, sie wollten zusammen in der folgenden Nacht vermittelst einer Strickleiter aus der Burg zu entkommen versuchen. Dies gelang ihnen auch. Er entkam glücklich zu den seinen und beschloss, sofort auf demselben Wege mit ihnen zurückzukehren und sich in den Besitz des Schlosses zu setzen. Sie kamen auch hinein, aber in der Burg selbst fand ein heftiger Kampf statt, da die Verteidiger von allen Seiten aus die Magdeburger, die keine Ortskenntnis besaßen, einstürmten. Schon wichen diese, da kam ihnen auf einmal von einer Seite her Hilfe, wo sie es am wenigsten erwarteten. Die Ahnfrau stand nämlich unter den Streitenden, schritt vor dem Schultheiß und seinen Leuten her und führte sie unverletzt durch die dichten Scharen der Randauer. Auf dem Schlosshof angelangt, öffnete sie mit eigener Hand die starken Tore. Über die herabrasselnden Zugbrücken stürmten nun die Magdeburger herein. Es fand noch ein heftiger, aber kurzer Kampf statt, bis die Magdeburger die Burg eroberten. Unter den Gefallenen aber fand man die Leichen des Schultheißen und seiner Geliebten, der Gräfin von Barby. Das Schloss wurde bei dieser Gelegenheit durch Feuer mit zerstört.

Quelle: Oskar Ebermann, Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten, Verlag Hegel & Schade, Leipzig