Die Nacht auf dem Galgen

  von Theodor Seidenfaden, Königshoven

Als vor Jahren ein Zülpicher Bürger, der sich auf dem Heimweg von Euskirchen verspätet hatte, durch das Gehölz des Schievelsberges kam, dem der Novembermond nur spärliches Licht gab, trat ihm plötzlich ein Kerl entgegen und fragte, wieviel Uhr es sei. Das war an dem Ort und zu der Stunde verfänglich, und so fasste er den Knotenstock fester, schritt aus und meinte: „Die Uhr liege daheim in der Stube und dort könne er jetzt nicht sehen; außerdem künde der Mond ja die Stunde!“

Der andere aber ging mit und reihte dieser Antwort gleich eine neue Frage an: Ob er nicht Feuer für die Pfeife habe! Das war nun wieder eine Diebsfrage, weshalb der Zülpicher, ehe er noch die Bitte abschlug, seinen Begleiter auf die Seite nahm und ihn, soweit es das fahle Licht erlaubte, scharf im Auge behielt.

Und daran tat er gut; denn wie sie die nächsten Bäume hinter sich hatten, blitzte dem Kerl ein langes Meier in der Hand, welches er auf ihn zustieß, indem er rief: „Dein Geld!“ Das war, nach der langen Vorbereitung, ein dummer Überfall, dem ein Schlag des Knotenstockes, der den Dieb und sein Messer an den Boden warf, das schnelle Ende bereitete. Der Zülpicher wollte eben zu neuem Schwung ausholen; da tauchten vor ihm zwei Kerle aus dem Dunkel, von denen der Längste eine Flinte, hielt, jedoch keine Zeit fand, den Hahn zu rühren, weit ihn der Knotenstock über den Kopf traf, derart, dass er taumelnd zusammenbrach, wobei der Schuss brach und jenem Genossen das Bein zerriss. So musste auch der sich hinlegen, und der Bürger hätte ruhig seines Weges ziehen können, wenn ihm nicht mit dem Geschrei des Verwundeten eine seltsame Angst in die Seele gefallen wäre, die noch geschürt wurde, als einer der Kerle zu pfeifen begann, wie wenn irgendwo eine Hölle von Räubern des Hilferufes warte.

Da sprang er durch das Gebüsch, hastete seitwärts und stand nach einigem Gestolper über Wurzeln und Stümpfe am Rand einer Lichtung vor dem Galgen seiner Stadt daran drei Gehenkte langsam hin und her baumelten, war also bei seiner Flucht wieder unter die Räuber geraten. Aber die ließen die Köpfe hängen, kümmerten sich weder um das Eulenvolk, das der schnelle Schritt von ihren Schultern scheuchte, noch um den Mann, der bei ihnen Zuflucht suchte. Weil der im gleichen Augenblick hinter ihm Hundegebell und fremdes Stimmengewirr hörte, packte er, kurz entschlossen, den Knotenstock zwischen die Zähne, kletterte den Galgen hinauf, nahm oben den Stock wieder zur Hand und legte sich dann der Länge nach auf den Querbalken.

Zwar stieg ihm von den unheimlichen Gesellen, deren zerfetzte Kleider am Leibe flatterten, stark genug Moderluft hoch, und das Nachtgevögel, dem der Lärm die Raubflüge störte, krächzte schauerlicher als sonst. Doch zwang er sich, still zu liegen, obschon ihm jeder Augenblick das Blut heißer durch die Ader trieb. Trotzdem kicherte in einem Winkel feiner Seele der Schalk, der ihm oft über schwere Stunden geholfen und ihn auch diese Nacht zunächst noch den rechten Weg geführt hatte. Das Gekicher schwieg, wie schließlich aus dem Dickicht ein Hund am, dem einige Kerle folgten, deren erster ihm der zu sein schien, der unter seinen Hieben zusammengebrochen war. Als der Hund, ein zottiges Vieh, den Galgen hinauf bellte und der Kerl ihm folgen wollte, riefen seine Kameraden, die sich nicht an die baumelnden Brüder wagten: Zu solchem Pack klettere nur der Teufel, und der sei wohl kaum vor ihnen geflohen und habe sich dieses Versteck gesucht; der Flüchtling müsse entkommen oder versunken fein!

Aber der andere, den die Rache peitschte, wollte die Warnung nicht hören und kletterte den einen der stehenden Balken hinauf, indes der ungewisse Mond Schatten über die Lichtung warf und der Hund immer toller bellte. Wie er schon halben Weges war, gelang es dem Zülpicher, dem die neue Not den alten Schalk wieder weckte, den Strick zu fassen, der neben dem Kletternden ding. So gewandt und schnell bewegte er ihn bin und her, dass der Gehenkte sich drehte und mit kalter Hand den Spitzbuben ins heiße Gesicht traf.

Und der Schlag packte ihn schlimmer als der erste dieser Nacht; denn er glaubte, der Tote verbitte sich die Störung der Ruhe und wollte ihn zu sich nehmen ins dunkle Reich der Ewigkeit. Dazu fehlte ihn natürlich die Luft, und so stürzte er denn mit heiserm Schrei hinunter, dem Hunde auf den Schwanz, sprang jedoch gleich wieder hoch und rannte hinter dem kläffenden Vieh ins Gebüsch, bevor seine Genossen, die der Schreck lähmte, wussten, was geschah. Erst als der Zülpicher, dem der Tote noch immer bedrohlich aus der Hand hing, tief und feierlich von seiner Höhe rief, verflucht sei, wer Verstorbene störe, rannten auch sie, gesträubten Haares, davon.

Wie dann der letzte Lärm im Walde verstummte, ließ er ihn, heimlich lachend, los, blieb aber, weil er fürchtete, das Gesindel käme zurück, bis zum Morgen liegen. Beim ersten Frührot stieg er ab und ging, nebelnass und müde, doch froh des gelungenen Streiches, heim, wo er noch manchmal von der Nacht erzählte, in der es ihm gelang, Galgenvögel mit gerichteten Brüdern zu vertreiben und sich selbst durch einen Toten das Leben zu retten.

(Sage des Monats Juli 2020)

Quelle: Heimatblätter - Beilage der Dürener Zeitung, 2. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 23.01.1925