Zusammenfassung der Sage von der Stadt Gression

Die Sage von der Stadt Gression ist über ein großes Gebiet verbreitet. Sie lebt im Kreise Düren auf der ganzen linken Rurseite, greift von Düren an auf die rechte Flußseite hinüber und umfaßt mit Ausschluß von Niederzier den ganzen nördlichen Teil des Kreises. In den Kreisen Bergheim und Jülich tritt sie uns ebenfalls in einigen Ortschaften entgegen. So soll 'nach einer alten Sage und einer in Aldenhoven sich befindenen Chronik' auch 'die alte Feldkirche Geuenich bei Altdorf und Inden' zu Gression gehört haben. Besonders lebendig ist die Sage im Landkreise Aachen, so in Gressenich und im weiten Umkreise von Gressenich, und sogar in dem weit entlegenen Vetschet desselben Kreises ist sie zu finden.

Jedesmal knüpft sich die Sage von Gression an die Spuren römischer Ansiedlungen an, die besonders zahlreich in dem bezeichneten Gebiete auftreten. Wo sich nur römische Baureste, namentlich die roten Dachpfannen und Grundmauern zeigen, versetzt man die untergegangene Stadt hin. Die Entstehung der Sage dürfte der Auffindung dieser Reste zu danken sein. Stößt man nämlich noch heute mit dem Spaten oder Pfluge unvermutet auf eine bis dahin unbekannte Fundstelle, so sagt man gleich: „Dat es wedde e Stöck van dr Stadt Gression, die versonke es“ oder ähnliches.

Beachtenswert ist es, daß man fast immer die Sage mit dem heutigen Dorfe Gressenich in Beziehung bringt. In den meisten Ortschaften des Kreises Düren linksseitig der Rur heißt es bei der Erzählung der Sage: „Hier hat die Stadt Gression gestanden, die bis Gressenich reichte.“ Auch gibt man oft an, „Gressenich hat seinen Namen von der Stadt Gression,“ oder „Gressenich ist von der Stadt allein übrig geblieben oder bildete den Hauptteil der Stadt.“ Die Verbindung des Namens Gression mit dem heutigen Gressenich beleuchtet auch den Umstand, daß man die untergegangene Stadt nicht selten Gressenich nennt.

Außer dem Namen Gression (wie die Stadt allgemein genannt wird) und Gressenich begegnet man auch den Namen Gressiona, Gressionau, Grassi-Gronau, Grasigrone und Gratenich (so wird sie in Brandenberg genannt).

Es läßt sich leicht erklären, daß die Sage bei ihrer weiten Verbreitung in den vielen Ortschaften sehr verschieden erzählt wird. Oft werden nur kurze Angaben gemacht, wie: „Hier oder dort hat die Stadt, oder hier (man bezeichnet dabei die Flurstelle, wo die römischen Altertümer gefunden werden) hat ein Marktplatz, eine Kirche, eine Burg von Gression gelegen.“ Oft aber rankt sich an ein einzelnes Überbleibsel der Stadt oder an ein Ereignis, das zur Zeit des Bestehens der Stadt stattgefunden haben soll, eine schöne Sage, manchmal ein ganzes Sagennetz an. Ein Gesamtbild der einzelnen im Volke noch lebenden Sagen würde folgendes ergeben:

Gressenich, ein heute nur wenig bekanntes Dorf im Landkreise Aachen, war in uralter Zeit eine so gewaltige Stadt, daß keine an Größe mit ihr verglichen werden konnte. Der Durchmesser der Stadt betrug nach Angabe einiger zwei, nach anderen fünf und nach den Berichten der meisten gar sieben Stunden. Nach anderen Angaben reichte sie von Aachen bis Köln und von Düren bis Jülich oder von Aachen längs der Krefelder Straße bis zum Rheine. Einige bemaßen den Umfang der Stadt sogar auf hundert Stunden.

Auch über die Bauanlage der Stadt ist man unterrichtet. Sie war nicht wie die heutigen Städte so geschlossen gebaut. Es reihte sich nicht an den Straßen Haus an Haus an, sondern die Häuser lagen oft weit auseinander; nur hier und da waren sie zu Gruppen nach Art unserer Weiler vereinigt. Trotzdem die Häuser nicht zusammmenlagen, so bildete doch die Stadt ein Ganzes. Sie wird in Gressenich, Gürzenich und Lucherberg und anderen Orten sogar als eine wohlbewehrte Festung geschildert, die von Mauern umgeben und durch Tore verschlossen war. In Langerwehe soll ein Tor gestanden haben. Davon soll noch die Bezeichnung einer Flurstelle 'em Pozefeld' Zeugnis ablegen. In Gürzenich sollen im 'Rott' Festungswerke und Tore der Stadt gestanden haben.

Öffentliche Plätze gab es ebenfalls, und Marktplätze der gewaltigen Stadt verlegte man an die heutige Stelle des Muttergotteshäuschens in Düren, auf die 'Duffesmaar' bei Geich und auf den sogenannten 'Mahdberg' bei Birgel, dessen Name von dem dort gelegenen Marktplatz herrühren soll.

An manchen Punkten sucht man öffentliche Bauten der Stadt, wie Kirchen, Tempel oder Burgen. Auf der Duffesmaar stand außer anderen vornehmen Bauten eine Kirche, in Pier befand sich an der Stelle der heutigen Pfarrkirche ein heidnischer Tempel der Stadt Gression, und die Flurnamen 'Kirchwasser' bei Merken und 'de ahl Kerch' bei Berzbuir sollen von dort versunkenen Kirchen von Gression benannt worden sein. Die alte Pfarrkirche von Langerwehe soll sogar, zufolge allgemeiner Angabe der Umwohner, ursprünglich ein Heidentempel von Gression gewesen sein, der erst nach dem Untergange der Stadt, nach Ausbreitung des Christentums in ein christliches Gotteshaus umgewandelt worden sein soll. Im Nonnenweiher bei Derichsweiler soll ein Kloster, das noch zu Gression gehörte, versunken sein. Die Heidenburg bei Hoven bezeichnen viele als eine Burg der Stadt, und im Schlammerweiher bei Pier soll die Burg des Oberhauptes der Stadt ('der über die Stadt zu sagen hatte') gestanden haben.

Das Alter der Stadt wird verschieden angegeben. Einige sagen, Gression bestand schon vor der Sündflut, andere setzen ihr Alter in die Heidenzeit. Die Bewohner sind nach allgemeiner, fast übereinstimmender Angabe Heiden gewesen; nur in Gressenich und Geich wurden sie als Römer bezeichnet.

Die Stadt hat eine wechselvolle Geschichte gehabt. Einmal erschienen vor Gression, das als uneinnehmbare Festung galt, die Türken in gewaltigen Scharen und belagerten die Festung. An dem zwischen Gressenich und Hamich fließendem Omerbache, der damals ein großer, schiffbarer Strom war, kam es zu einer furchtbaren, blutigen Schlacht, in der die Türken so vollständig geschlagen wurden, daß sie mit großen Verlusten abziehen mußten. Beim Abzuge soll der türkische Feldherr den Ausspruch getan haben: „Kommen wir wieder, so werden wir in noch größerer Heeresmasse erscheinen, so daß unsere Pferde den Omerstrom ('ussuffe') leer saufen können, um trockenen Fußes hinüberzukommen. Dann soll kein Stein auf dem anderen in der Stadt bleiben.“

Nach einigen sind die Türken in noch gewaltigerer Anzahl zurückgekehrt. Die Bewohner flohen vor Angst und Schrecken in die nahegelegenen Wälder. Die Türken bemächtigten sich der Stadt und machten den Ausspruch ihres Feldherren zur Wahrheit. Es läuft noch ein anderer Ausspruch eines türkischen Oberbefehlshabers im Volke um, der in der Umgegend von Krauthausen lautet: „Komme ich bis an den Rhein, so ist gleich Gression mein.“ Nach anderen Berichten hatten die Türken im ersten Kriege so große Verluste erlitten, daß sie an keine Wiederkehr mehr gedacht hätten; im Gegenteil sollen sie noch heute Furcht vor dieser Stadt haben.

Bei den vielen, manchmal sich widersprechenden Angaben steht nur das eine fest, daß am Omerbache eine verlustreiche Schlacht stattgefunden haben soll, die die Entscheidung brachte. Das Andenken an diese Entscheidungsschlacht mit den Türken hatte sich lange in einem alten, aber jetzt vergessenen Liede erhalten, dessen Anfang hieß:

„Zu Gression
Am Omerstrom
Ward eine Blutige Schlacht geschlagen …„

Wieder andere berichten von einem Kampfe der Spanier, die beim Übersetzen über den Omerstrom in den Wellen ertranken. Dadurch sei die Festung gerettet gewesen. Endlich melden die Umwohner von Stolbergrhld von einer anderen Gefahr, die die Stadt Gression bedrohte. Es zogen nämlich von Westen her die Franzosen in großer Schar heran. Diesmal setzte aber der Merzbach, der damals ein gewaltiger Strom war, so daß Schiffe auf ihm fahren konnten, ein solches Hindernis in den Weg, daß die Feinde wieder unverrichteter Sache abziehen mußten.

Am Totenlager bei Lucherberg wurde von einem unbekannten Volke ein Angriff auf Gression gemacht. In dem Kampfe kam der feindliche General ums Leben, der dort mit vielen anderen Gefallenen seine Ruhestätte fand, worauf die dortige Flurstelle den Namen 'das Totenlager' erhielt. Ebenso wird in Gürzenich von Kriegen und Kämpfen gegen die Stadt Gression berichtet, die im 'Rott', wo man Festungswerke und Tore annahm, stattgefunden haben sollen. Die Berichte sind aber so verworren, daß man keinerlei einheitliches Bild davon gestalten kann. Gar mancherlei erzählt sich der Volksmund von dem Endschicksale der Stadt.

In einigen Orten geht die Sage, daß fremde Kriegshorden über die Stadt hereinbrachen, sie zerstörten und verbrannten, so daß nur elende Trümmerhaufen übrig blieben. In Merken sagt man, bei der Zerstörung sei es so schrecklich hergegangen, daß davon die Stadt den Namen 'Gräßelich' erhielt, der später in Gressenich umgewandelt wurde. An der Kohlenasche, die man vielfach bei den römischen Trümmern findet, will man das sichere Zeichen von der Zerstörung durch Feuer und Brand erkennen.

In anderen Orten schreibt man den Untergang der Stadt einer Flut zu, meist der Sündflut. Man will das auch an manchen Stellen begründet finden. In Gressenich will man die Zeichen in den versteinerten Muscheln, die noch vom Wasser herrühren müßten, und die so oft in den Steinbrüchen zutage treten, erkennen. In Lucherberg, Langerwehe und anderen Orten weist man auf die in der Braunkohle bei Lucherberg zusammengeschwemmten Baumstämme, die dort bei der Flut aufgehäuft seien, sowie auf die über der Braunkohle lagernden Sand- und Geröllmassen hin. Auch sollen die im 'ruede Brooch' bei Schwarzenbroich gefundenen, mit den Wurzeln nach oben gekehrten, steinharten, schwarzen Baumstümpfe auf die gewaltige Flut hindeuten, die das Schicksal der Stadt besiegelte.

Am meisten verbreitet ist die Anschauung, daß die Stadt versunken sei. Fragt man nun nach dem Grunde, weshalb die Stadt versunken sei, da das doch eine Strafe bedeute und eine Strafe eine Schuld voraussetze, so wissen manche keine Antwort. Viele aber begründen den plötzlichen Untergang mit der Üppigkeit und Lasterhaftigkeit der Bewohner der Stadt. Meist fügt man bei dieser Schilderung hinzu, früher habe man sich vielmehr von der Stadt zu erzählen gewußt, von der großen Pracht, dem Reichtum, der Üppigkeit der Bewohner usw., das aber jetzt der Vergessenheit anheimgefallen ist. Die schlimmste Übeltäterin in Gressenich soll 'Frau Liesche' gewesen sein, eine frevelhafte Sabbathschänderin, die zur Strafe jetzt noch in Röhe und Hehlrath umgeht und durch ihr nächtliches Klagegeschrei die dortigen Bewohner erschreckt.

Ferner gibt man noch an, daß das Leben unten in der Stadt noch nicht völlig erloschen sei. In der Weihnachtsnacht z.B. würde es wieder in ihr lebendig. Zu Mitternacht höre man die unterirdischen Glocken läuten. Ganz besonders wird das von der Duvvesmaar, vom Kirchwasser, dem Nonnenweiher und von einer Stelle am Erzbach bei Mausbach erzählt, und ältere Leute versichern, in ihrer Jugend zu Mitternacht der Christnacht an die Stellen geeilt zu sein, um das unterirdische Glockengeläute zu vernehmen. Aber nur der Gläubige, und wer sein Ohr lauschend an den Boden hält, kann die dumpfen Töne heraufklingen hören.

Quelle: Heinrich Hoffmann , Zur Volkskunde des Jülicher Landes, Zweiter Teil: Sagen aus dem Indegebiet; www.stolberg-abc.de