Die dreiste Magd hat viel gewagt

  (S. Curiositäten von Vulpius Bd. V. S. 466 etc.)

An dem sogenannten schwarzen Hause, einem der ältesten Gebäude zu Brieg, auf dem dasigen Markte war sonst über der Thüre ein sonst werthloses Gemälde angebracht, welches eine Magd auf einem Schimmel sitzend, von dem Galgen nach der Stadt fliehend, darstellte, unter welchem die oben als Ueberschrift zu dieser Sage abgedruckten Worte zu lesen waren. Das Bild sollte aber folgende Begebenheit der Nachwelt überliefern.

Im Anfange des 17. Jhdts., als das erwähnte Haus einem Weinschenken gehörte, hatte sich eines Abends eine ziemliche Anzahl von Weingästen versammelt, welche sich von dem und jenem, zuletzt auch von Gespenstern und umgehenden Geistern unterhielten. Die dreiste Magd des Hauses, welche zugegen war, ließ gegen die Gesellschaft die Aeußerung fallen, daß sie sich vor keinem Gespenste fürchte und bereit sei jede Probe deshalb zu bestehen.

Sogleich trat der Scharfrichter der Stadt hervor, überreichte der Magd einen Schlüssel und sagte, daß er nur dann ihre Worte für mehr als Prahlerei halten werde, wenn sie mit diesem Schlüssel zum Galgen ginge, die Thüre desselben aufschlösse und seine Handschuhe, die er dort vergessen habe, noch in dieser Stunde abhole. Nach einigen Bedenklichkeiten willigte die Magd in das Verlangen des Scharfrichters und trat schnurstracks ihre Reise an.

Es war nahe um die Mitternachtszeit, als sie das Thor der Stadt erreichte. Rings um sie her waltete grauenvolle Stille und nur des Mondes blasser Schein erleuchtete ihren Pfad. Sie kam beim Hochgerichte an und zog schon den verhängnißvollen Schlüssel aus ihrer Tasche hervor, als sie plötzlich gewahr ward, daß sie seiner nicht bedürfe. Die Thür war bereits geöffnet; dieser Umstand machte sie stutzig und sie erschrak nicht wenig.

Um sich indeß von den daheim ihrer wartenden Gästen nicht verspotten zu lassen, beschloß sie Alles zu wagen. Festen Schrittes trat sie in den innern Raum des Galgens und bemächtigte sich der nicht ferne liegenden Handschuhe. Indem sie übrigens ihre scheuen Blicke umherwarf, fielen dieselben auf mancherlei Gegenstände, welche bei ihr die Vermuthung erregten, daß das Hochgericht einer Räuberbande zum nächtlichen Aufenthalte diene, die sich wahrscheinlich jetzt ihres Gewerbes wegen entfernt habe. Diese Vermuthung ward noch wahrscheinlicher, als sie beim Heraustreten einen Schimmel bemerkte, der reich beladen und am Galgen angebunden dastand.

Rasch wie die Jungfrau war, schwang sie sich auf den Rücken desselben, lenkte ihn herum und trabte in höchster Eile nach dem Thore zu. Kaum mochte sie einige hundert Schritte vom Hochgerichte sein, als die Räuber von ihrem nächtlichen Ausfluge wiederkehrten und Schimmel und Beute vermißten. Sogleich bestieg einer aus ihrer Mitte einen andern Gaul und verfolgte die Spur der Entflohenen, welche in Todesangst gerieth, als sie sehr bald ihre Verfolger dicht hinter sich erblickte, zum Glücke befand sie sich nahe am Thore der Stadt. Man öffnete dasselbe geschwind, sie schlüpfte hinein und kam wohlbehalten mit ihrer Beute im Weinhause an, wo man über den abenteuerlichen Ausgang des Possenspiels nicht wenig staunte.

Einige Tage nachher, gerade an einem Sonntage als alle Bewohner des Hauses sich in der Kirche befanden, traten zwei reich gekleidete Herren in die Stube und forderten Wein. Die Magd, der eine dunkle Ahnung sagte, daß wohl einer dieser Herren ihr Verfolger von neulich sei, stieg in den Keller hinab, um den verlangten Wein zu holen. Auf einmal hörte sie Fußtritte hinter sich, es waren die Fremden, welche ihr in dem Augenblicke im rauhen Baßtone die Worte zuriefen: »Halt, Canaille, empfange den Lohn Deines an uns begangenen Raubes!«

Kaum vernahm sie die ersten Sylben dieses Zurufs, als sie schon das Licht ausblies, durch das ihr genau bekannte Kellergewölbe auf die Straße entschlüpfte, alle Zugänge des Kellers sorgfältig verrammelte und nun spornstreichs zum Rathhause sprang, wo sie den ganzen Hergang der Sache erzählte. Die Ortsobrigkeit traf sogleich dienliche Anstalten, die Räuber wurden festgenommen, verhaftet und genöthigt, ihre Mitschuldigen anzugeben, und die ganze Bande wurde hingerichtet.

Quelle: Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 213-214