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Vorwort von Ludolph Beckedorff

Gesetzt, es gäbe Jemanden, welcher Volksmährchen zu hören oder zu lesen ein besonderes Vergnügen fände, – worin er denn allerdings sehr Recht haben würde – welcher aber sich nicht begnügen wollte, dem bald heitern, bald ernsten, bald muthwilligen, bald schauderhaften, immer aber anziehenden Eindrucke dieser wunderbaren Erzählungen sich ohne weiteres zu überlassen, sondern verlangte, auch noch darüber hinaus Etwas zu wissen und von den Sagen selbst allerhand zu erfahren, so etwa, wie man von einem Menschen, der uns gefällt, gern noch mancherlei persönliche Dinge zu wissen begehrt, als da sind: wie er heiße, woher er komme, was er wolle, wohin er gehe, und dergleichen mehr; ein solcher würde wahrscheinlich eine Menge Fragen thun, die ihm denn doch beantwortet werden müßten.

Ich will eine solche Antwort auf die natürlichsten von diesen Fragen hier, so gut es gehn will, versuchen. Vielleicht, daß einige Leser dadurch befriedigt werden. Andersdenkende aber mögen ihre abweichenden Ansichten daran prüfen, befestigen, oder auch berichtigen.

Erste Frage: Was sind Volkssagen?

Im Grunde könnte man darunter alle jene Erzählungen von verschiedenartigstem Inhalte verstehen, die im Munde des Volks leben, und sich dort von der Großmutter zum Enkel getreu fortpflanzen. Indessen möchte alsdann manches dazu gerechnet werden, was diesen Namen eigentlich nicht verdient, als z. B. wirkliche historische Anekdoten, eigentliche Mährchen, die das Gepräge absichtlicher Erfindung an sich tragen, und und endlich, falls sie sich unter dem Volke erhalten sollten, jene erdichteten Erzählungen mit moralischer Richtung, die man in der neuern Zeit ihm geflissentlich in Kalendern, Aufklärungsschriften, Volksbüchern und dergleichen, hat in die Hände spielen wollen. Echte Volkssagen aber, lassen sich vielleicht an folgenden Unterscheidungszeichen erkennen:

1) sie ruhen auf einem geschichtlichen oder örtlichen Grunde; sie beziehen sich entweder auf wirkliche historische Personen, Familien und Begebenheiten, oder auf bekannte Gegenden und Orte, und bekommen eben dadurch einen Schein und Anstrich von Wahrheit;

2) sie enthalten aber auch einen wunderbaren oder wenigstens abenteuerlichen Bestandtheil, durch welchen jener Anschein von Wahrheit immer wieder zunichte gemacht, und ein zweifelhaftes und eben dadurch anziehendes Halbdunkel über das Ganze verbreitet wird; und endlich

3) sie haben keine anderen Quellen, als sich selbst; sie sind da, sie werden erzählt, sie gefallen, sie reizen, aber wer sie erdacht, wer sie zuerst erzählt habe, ist unbekannt.

Und durch dieses alles werden sie nun dasjenige, wofür sie eigentlich gehalten werden müssen, nämlich der Kreis und Inbegriff der gesammten Volks-Dichtung: sie enthalten den Stoff der ganzen National-Poesie, und was von dieser überhaupt gilt, das findet auf sie ebenfalls Anwendung.

Wenn wir annehmen, daß wohl jeder Mensch von Zeit zu Zeit das Stückwerk seines Daseyns lebhaft empfindet, daß er sich bald durch die Noth des Augenblicks, bald durch das Dunkel der Zukunft, hier durch die eigene Kurzsichtigkeit, dort durch fremde Verkehrtheit, immer aber durch ein räthselhaftes Geschick, und durch [XV] eine unübersehbare und unerforschliche Weltordnung gedrückt, gehemmt und beschränkt fühlt; so werden wir es sehr begreiflich finden, daß er sich auch dann und wann hinaus sehnt aus der Enge und Verwirrung dieses Lebens in eine Welt voll erkannten Zusammenhanges, wo alle billigen Wünsche erfüllt, jede Sehnsucht befriedigt, der Schmerz versöhnt, und die Thränen getrocknet werden. Da aber in der weiten Wirklichkeit eine solche Welt nicht vorgefunden wird, so ist es ebenfalls natürlich, daß der Mensch sie sich selbst auferbaut in Träumen, Wünschen, Hoffnungen und Ahndungen. Und so entsteht ihm dann jene wunderbare Welt der Dichtungen, wohin der Geist so gern sich flüchtet aus den kleinlichen und drückenden Verwicklungen des alltäglichen Lebens, und worin er nicht sowohl wirklichen Ersatz für den Druck des Lebens, als vielmehr nur ein tröstliches Bild und eine Bürgschaft finden will von einer zusammenhängenden, weisen und gerechten Ordnung der Dinge. Damit aber die solchergestalt erschaffene Welt nicht bloß als ein Reich phantastischer Gebilde erscheine, so knüpft er sie gern mit festen Banden an die Wirklichkeit fest. Bekannte Gegenden und Orte müssen den Hintergrund bilden, [XVI] geschichtliche Personen geben ihre Namen her, oder wahre Begebenheiten werden auf irgend eine Weise hinein verflochten; und wie die meisten Menschen gerne ihrer Jugend gedenken, sie als eine Zeit des Glückes und der Zufriedenheit sich vorzustellen pflegen, und so aus der Erinnerung einer besseren Vergangenheit Erheiterung und Trost in der Gegenwart hernehmen mögen, so werden auch jene Dichtungen am liebsten in eine frühere, oft dunkle, aber immer als glücklicher gepriesene Vorzeit verlegt. Endlich aber werden ungewöhnliche und abenteuerliche Verhältnisse und wunderbare Wesen und Gestalten hineingewebt, theils als Reiz und Spiel der Einbildungskraft, theils als Zeugniß von dem in der menschlichen Seele tief gegründeten Glauben an einen unergründlichen Weltzusammenhang, theils endlich als immerwährende Erinnerung, daß das Ganze doch nur menschliche Erfindung und Spiel sey.

Und auf diese Weise bildet sich die Poesie überall und zu allen Zeiten. Ihre Quelle ist die im menschlichen Gemüthe gegründete unverwüstliche Sehnsucht nach einem glücklichen, vollkommenen und befriedigenden Zustande, und sie [XVII] selbst erscheint zugleich als Spiegel und als Gegensatz der Wirklichkeit, als bedeutsames Bild einer wünschenswerthen Weltordnung und als Inbegriff der unerfüllten Ansprüche an das Leben. –

Da indessen nach der Verschiedenheit der Zeiten sowohl als der einzelnen Charactere und selbst der augenblicklichen Stimmungen auch die Ansichten vom Leben und die Ansprüche an dasselbe höchst verschieden sind, so müssen auch die einzelnen Dichtungen darnach eine sehr ungleiche Gestalt zeigen. Bald nämlich sind sie heiter scherzend, bald bitter spottend und strafend, dann schmerzlich klagend, und dann wieder tröstlich beruhigend, bald vollständig beglückend, bald tragisch versöhnend, immer aber doch auf die eine oder die andere Weise besänftigend und befriedigend.

Und auf gleiche Weise verhalten sich nun auch die Volkssagen. Alles, was von der Poesie hier im Allgemeinen gesagt worden ist, gilt von ihnen; ja, es bewährt sich an ihnen gerade recht auffallend, und ihr Inhalt, so verschiedenartig er auch seyn mag, beweiset dieses. Wenn ein verzauberter [XVIII] Kaiser auf seiner verfallnen Burg sich bald einem alten Bergmann, bald einem armen Hirten wohlthätig offenbart; wenn ein fleißiger Köhler in seinem Meiler plötzlich einen reichen Schatz ausgeschmolzen findet, der ihm zur Herzogswürde verhilft; wenn wunderbare Bergfräulein Kleinodien verschenken; wenn ein armer Schäfer Goldhöhlen entdeckt, und wenn wohlthätige Zwerge zu Hochzeiten dienstfertig das Tischgeschirr herleihen: wer erkennt nicht in allen diesen freundlichen Mährchen die erlaubten und nicht hoffnungslosen Wünsche bedrängter, um den Unterhalt des Lebens oftmals besorgter Menschen? Wenn aber die Burg eines grausamen Raubritters von der Erde verschlungen; wenn ein unersättlicher Jäger bis zum jüngsten Gericht fortzujagen verdammt wird; wenn ein habsüchtiger Edelmann, der Schätze heben will, die ihm nicht bestimmt sind, dabei elendiglich zu Schaden kommt; wenn verbrecherische Mönche mit ewiger Unruhe bestraft werden; und selbst wenn ein schelmischer Berggeist die kleineren Unbilden des Lebens scherzhaft, aber derb berichtigt oder bestraft: zeigt sich dann in diesen ernsteren oder heiteren Sagen nicht neben dem stillen Unmuth über die ungerechten Ungleichheiten des Lebens [XIX] auch das tröstende Vertrauen auf eine höhere ausgleichende Gerechtigkeit? Oder wenn ein kluger und mächtiger, aber übermüthiger König endlich in Ketten und Banden geschlagen wird; wenn in den Pallästen der Fürsten und Großen eine weißverschleierte Ahnfrau Jahrhunderte hindurch Unglück weissagend umherwandelt; wenn eine Riesentochter, mit ihrer goldenen Krone auf dem Haupt, den drei Mal wiederholten frevelhaften Sprung über die grause Felsenschluft mit ihrem Leben bezahlt, und eine arme Jungfrau dagegen, die, von einem frechen Jäger verfolgt, sich den Felsen hinabstürzt, unbeschädigt von den Engeln in die Tiefe getragen wird: scheinen solche Erzählungen nicht auf das Mißliche und Gefahrvolle der irdischen Hoheit hinzudeuten, und das Lob der unbekannten Niedrigkeit mit dem Troste der überall verbreiteten göttlichen Hülfe zu enthalten? Und wenn endlich wohlbekannte nahgelegene Felsen, Wälder, Hügel, Thäler und Quellen mit wunderbaren Bewohnern bevölkert, oder durch seltsame Begebenheiten und Abenteuer aus lange verflossenen Zeiten merkwürdig erscheinen, strahlt dann nicht ein Theil ihres Rufes auch auf die Anwohner zurück, und giebt ihnen selbst einen wundersamen Anstrich, oder setzt [XX] sie wenigstens mit einer geheimnißvollen Vorzeit in ehrenvolle Verbindung?

Und so wandeln dann alle diese seltsamen Sagen und Mährchen neben dem mühseligen und einförmigen Leben des beschränkten, gedrückten und belasteten Volks freundlich, tröstend, hülfreich und oftmals erhebend einher, und helfen die wenigen Stunden verkürzen und erheitern, welche dem harten Dienste der Nothdurft abgewonnen worden sind. Gutmüthige Mütter aber übernehmen das dankbare Geschäft der Dichter, indem sie entweder den überlieferten Stoff nach ihrer Art bald mehr bald weniger ausführlich und lebendig darstellen und ausschmücken, auch wohl verändern und umgestalten, oder aus eigener Erfindung und gelegentlicher Veranlassung neue Erzählungen hinzufügen. Und diese Bewandniß nun scheint es überall mit den Volkssagen anjetzt zu haben. Ich sage: anjetzt, wo ein so auffallendes Mißverhältniß in Bildung, Ansichten und Sitten unter den einzelnen Theilen derselben Nation Statt findet. In alter Zeit freilich, als das sogenannte Wiederaufleben der antiken Kultur noch nicht dem einen Theile der Nation den bevorzugten Namen des gebildeten beigelegt hatte; mag auch kein großer Unterschied zwischen Volksdichtungen und der Poesie der höheren Stände gewesen seyn. Dieselben Sagen und Erzählungen, von welchen sich Fürsten und Ritter angezogen und erfreut fühlten, ergötzten auch den Knappen und den Knecht, und die Lieder und Gesänge, welche in Schlössern und Burgen ertönten, hallten in Häusern und Hütten wieder, so, daß in jener vollständigern Zeit Volkssagen schwerlich in dem Sinne angetroffen werden möchten, worin hier versucht worden ist, ihr Wesen und ihre Bedeutung zu beschreiben und zu erklären.

Volkssagen also machen die Poesie des Volkes aus, und, indem dieses hier hat sollen gezeigt werden, ist auch die mögliche

Zweite Frage: Woher stammen die Volkssagen? und wo sind sie zu Hause?

schon vorläufig mit beantwortet worden.

Die Volkssagen stammen her aus der Natur der menschlichen Seele, aus der in jedem Gemüthe wohnenden Sehnsucht nach Freude, Freiheit, Ordnung, Licht und Recht; und sie sind überall zu Hause, wo Menschen denken, betrachten, empfinden und gesellig leben. Sie entstehen wie von selbst, sie verändern, sie erneuern sich, und wenn nicht Dichter, Chroniken-Schreiber oder Sammler sie für längere Zeit festhalten und aufbewahren, verschwinden sie auch wieder, wie von selbst und oftmals ohne Spur; wie denn, zum Beweise dieser Behauptung, von dem ganzen großen Sagenkreise altdeutscher Vorzeit außer den wenigen Bruchstücken, die uns alte Gesänge und das Heldenbuch bewahrt haben, wohl nur wenige oder gar keine Ueberbleibsel in lebendiger Ueberlieferung mehr gefunden werden möchten.

Was es jedoch mit den einzelnen noch vorhandenen Sagen für eine Bewandniß habe; welchen geschichtlichen, örtlichen oder anderweitigen Veranlassungen sie ihre Entstehung verdanken mögen; wann und wo sie zuerst erfunden seyn können; in welcher Verbindung die Sagen einzelner Provinzen und ganzer Länder mit einander stehen, wie sie gewandert, verändert und umgestaltet sind; wie weit die Erzählungen von bestimmten fabelhaften Wesen und Personen reichen u. s. w., dieß alles sind Fragen, welche von Wißbegierigen leicht aufgeworfen werden können, und deren Beantwortung schon an andern Orten und namentlich in den „Volkssagen von Nachtigall in Halberstadt“ ausführlich und geistreich versucht worden ist. Auf jeden Fall aber bleibt es ausgemacht, und erhellet auch zur Genüge aus dem oben Gesagten, daß die ganze Geschichte eines Volks, seine Abstammung, Wanderungen und Schicksale, ferner die verschiedenen Zustände von Rohheit und steigender Ausbildung, seine Verfassung, Sitten, Religion, Regierungsart, das Klima und die Beschaffenheit seiner Wohnsitze, seine Armuth oder Wohlhabenheit, und endlich seine Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche auch auf die Sagen desselben den mannigfaltigsten und bestimmtesten Einfluß werden äußern müssen, und daß daher ein scharfsichtiger Beobachter und aufmerksamer Prüfer auch umgekehrt aus Inhalt, Art, Ton, und Farbe der einzelnen Sagen treffende Rückschlüsse auf Zeit, Ort, und Veranlassung ihrer Entstehung wird machen können. Es ist begreiflich, daß die Mythen roherer Völker auch ein wilderes, kriegerisches, aber mehr wunderbares und religiöses Gepräge zeigen werden, daß die Sagen südlicher Nationen freundlicher, reicher, üppiger und sinnlicher, die der nördlichen hingegen düsterer, trüber und ahndungsvoller erscheinen müssen; daß unter freien, glücklichen und wohlhabenden Völkern auch die Mährchen heiterer und scherzhafter, bei ärmeren und gedrückteren aber trauriger, klagender und mißmuthiger seyn werden; daß ferner gebirgige Gegenden deren mehr und mannigfaltigere besitzen müssen als das ebene Land, und endlich, daß es, wie schon mehrmals bemerkt worden ist, vor allen Dingen die Zeit sey mit ihren Veränderungen und Fortschritten, mit ihren religiösen und politischen Reformen und Umwälzungen, vorzüglich aber mit ihren Ansichten und Ansprüchen, Wünschen und Hoffnungen, welche entscheidend auf dieselben werde gewirkt haben. –

Wenn es nun aber eine Zeit gäbe, oder gegeben hätte, in welcher die Menschen sich gar wohl und behaglich gefühlt hätten, worin sie mit ihren friedlichen und glücklichen Lagen und Verhältnissen, hauptsächlich aber mit dem Zustande ihrer Bildung, mit ihrer Einsicht, ihrer Weisheit, ihren Empfindungen und Urtheilen höchlich zufrieden gewesen wären, welche sie selbst als eine vortreffliche und überlegene Zeit zu betrachten und zu preisen sich nicht hätten erwehren können, und von welcher aus sie die verflossenen Zeiten nicht bloß zu eigener Genugthuung vornehm betrachtet, sondern auch deren Thaten, Arbeiten und Bestrebungen einer neuen Prüfung und verständigen Sichtung zu unterwerfen für nöthig erachtet hätten, so würde eine solche Zeit begreiflicher Weise der Poesie eben nicht günstig gewesen seyn. Wozu hätte sie auch in ihrer eigenen Vortrefflichkeit diesen schöneren Gegensatz einer unvollkommenen Wirklichkeit, dieses erfreuliche Bild eines besseren Lebens, diese hülfreiche und tröstenden Begleiterin des beschränkten Daseyns eben gebrauchen können. Wenn sie aber dennoch der Poesie, als einer angenehmen Zugabe, eines herkömmlichen Luxus des Lebens, etwa zur Uebung des Urtheils und Witzes, oder zu gelegentlicher Erwärmung der Empfindung nicht ganz hätte entbehren wollen; so würde sie doch gewiß nicht unterlassen haben, derselben eine neue angemessene Richtung zu ertheilen. Sie würde also zuvörderst das Alterthümliche und hauptsächlich alles Wunderbare daraus verbannt, und sie sodann angewiesen haben, sich in allen Stücken, so viel wie möglich, an die wirklichen Zustände des Lebens, an die sogenannte Natur und Wahrheit zu halten, und sich in Form und Inhalt einer getreuen Nachahmung derselben zu befleißigen, indem es ja nur darauf abgesehen sey, durch die erdichteten Darstellungen zu einer recht täuschenden, schnellen und vielseitigen Berührung mit der geliebten Wirklichkeit zu gelangen.

Wir kennen sie, und haben sie zum Theil erlebt, eine solche eigenliebige, an sich selbst verschwendete und zersplitterte Zeit, und ein großer Meister hat es übernommen, uns das Bild derselben und ihrer buntscheckigen, nach den verschiedenen Aeußerlichkeiten des Lebens aus einander gerichteten, selbst gefälligen Thätigkeit in Darstellungen „aus seinem Leben“ lehrreich und warnend vor die Augen zu führen, und an seinem eigenen Beispiele zu zeigen, wie selbst ein großes Talent und ein gesundes Naturell in solcher Zeit verleitet werden können, die Dichtung ganz in das wirkliche Leben herab zu ziehen, und sie zu augenblicklichen und bloß persönlichen Zwecken zu verbrauchen, so daß sie am Ende, obgleich immer ihrer eigenthümlichen hülfreichen Natur gemäß, nur als ein „Hausmittel“ dienen muß, um über innere peinliche Verwickelungen oder kleine moralische Verlegenheiten glücklich hinweg zu helfen.

Daß nun ein solches Zeitalter der Wunderwelt der Volkssagen eben nicht günstig gewesen seyn könne, läßt sich leicht erachten. Auch hat man darin nicht unterlassen, sie bald als kindisch zu verspotten, bald als abergläubisch und gefährlich zu verwerfen; und da ein, eben dieser Zeit angehöriges, sonst achtbares Bestreben, die Zustände des Volks zu verbessern und dasselbe an sich heran zu bilden, hinzugekommen ist; so hat man vielfältig sogar gesucht, die alten wunderbaren Sagen und Mährchen ganz zu verdrängen, und an ihre Stelle eine Reihe sogenannter natürlicher und vernünftiger, kurz zeitgemäßer Erzählungen unterzuschieben, so, daß, wenn es gelungen wäre, in kurzer Zeit Nachbar Velten und Vetter Michel die Stellen eingenommen haben würden, welche Kaiser Friedrich und der Ritter Siegfried so lange glänzend behauptet hatten.

Und in dieser Beschaffenheit der vorletzten Zeit liegt nun auch der Hauptgrund, warum die Sagen und Mährchen, wie ihre Sammler jetzt häufig klagen, unter dem Volke selbst so selten geworden sind. Hernach ist die Noth und der Druck der jüngsten Zeit hinzugekommen, und so haben nach und nach die seltsamen Wesen und Gestalten der alten Sagenwelt sich von der unfreundlichen Wirklichkeit in ihre Wälder, Burgen, Klüfte und Höhlen, oder in ihre luftige Heimath auf eine Zeitlang zurückziehen müssen.

Aber sie werden wiederkehren, und die glorreiche Zeit, welche uns angebrochen ist, und worin Alles ehrwürdig-Alte in erneuerter Form wieder auferstehen muß, wird auch sie wieder, und hoffentlich in noch besserer und verjüngter Gestalt, zurückführen und in ihr altes schönes Recht einsetzen; ja, es ist zu erwarten, daß diese Zeit selbst dereinst als der Beginn eines neuen würdigen Sagenkreises und einer großen nationalen Poesie, von den kommenden Geschlechtern werde betrachtet werden.

Dritte Frage: Wie lassen sich die Volkssagen ordnen und eintheilen?

Diese Frage, welche wohl nur von ordnungsliebenden Sammlern aufgeworfen werden möchte, läßt sich auf mannigfaltige Weise beantworten.

Volkssagen lassen sich ordnen einmal auf gleiche Weise, wie die einzelnen Dichtungsarten selbst klassifiziert worden sind, insofern dieß nämlich nicht nach der Form der Darstellung, sondern nach der Art des Inhalts geschehen ist, und so bekommen wir komische und tragische, elegische und satyrische, idyllische und epische Sagen; sie lassen sich ferner ordnen nach ihrer Heimath, und in dieser Rücksicht giebt es allgemein verbreitete Sagen, Sagen einzelner Länder, Sagen einzelner Provinzen, und endlich ganz bestimmte Local-Sagen; sie lassen sich drittens ordnen nach den Gestalten, Personen oder Begebenheiten, die in ihnen wiederkehrend vorkommen, und auf diese Weise haben wir Hühnen-Sagen, Zwerg-Sagen, Geister-Sagen, oder auch die Sagen von Karl dem Großen, vom Kaiser Friedrich, die Mährchen vom Rübezahl u. s. w.; und endlich viertens lassen sie sich ordnen, – und dieß möchte vielleicht die bequemste und beste Art ihrer Eintheilung seyn, – nach der ihnen selbst inwohnenden Zeit; und in dieser Rücksicht kann man sie füglich in vier Hauptordnungen bringen: Es giebt Sagen 1) aus fabelhafter Urwelt, 2) aus dunkler Vorwelt, 3) aus späterer historisch erhellter Zeit, und 4) die außer aller Beziehung auf irgend eine Zeit stehen, und welchen man deshalb zur Unterscheidung die Benennung: Volksmährchen, beilegen könnte, da jene ersteren drei Arten hingegen vorzugsweise den Namen der Volkssagen verdienen möchten. Welche von diesen oder anderen gedenkbaren Eintheilungsarten man jedoch annehmen wolle, scheint höchst gleichgültig zu seyn, oder wird vielmehr von den besondern Zwecken abhangen, um welcher willen ihre Sammlungen veranstaltet werden. Am besten ist es wohl, sie gar nicht zu ordnen, ihr freies, buntes, durch einander geschlungenes Leben, durch keine steife Rangordnung zu stören, und dergestalt den neu entdeckten oder neu erfundenen immer einen ungehinderten Eintritt in die wunderbare alte Gesellschaft offen zu erhalten.

Vierte Frage: Welchen Nutzen haben die Volkssagen?

Wenn man zu Beantwortung dieser Frage zuvörderst den Begriff von Nutzen überhaupt erörtert und die mancherlei Zwecke berücksichtigt hätte, zu welchen die Volkssagen etwa gebraucht werden können; so würde man wahrscheinlich finden, daß nach Verschiedenheit der Forderungen, welche an sie gemacht werden, auch ihr Nutzen höchst verschieden ausfällt.

Wer sich ihrer gelehrten Absichten, für Historie, alte Erdbeschreibung, Kultur- oder Sitten-Geschichte und dergl. bedienen wollte, würde schwerlich eine reiche Ausbeute aus ihnen zu erwarten haben. In allen diesen Rücksichten liefern sie wenig oder gar nichts; als Quellen sind sie durchaus nicht zu gebrauchen, nicht einmal als Hülfsmittel; höchstens zu Belegen möchten sie dienen können. Und diejenigen, welche sie zu solchen Zwecken haben anpreisen wollen, scheinen nicht sowohl ihnen einen übertriebenen Werth beigelegt, als vielmehr ihren wirklichen Werth gänzlich verkannt zu haben.

Ihr eigentlicher Nutzen nämlich, und welcher auch schon oben bei ihrer Beschreibung vorläufig angegeben und entwickelt worden, ist kein anderer, als den alle Poesie überhaupt hat und haben kann, welche nicht bloß unterhält, ergötzt, erfreuet, erheitert, sondern auch erhebt und stärkt, ja den Blick von den irdischen Dingen hinweg auf eine höhere Ordnung und zuletzt auf Gott selbst hin richtet.

Eben so wohlthätig wirken nun auch die Volkssagen, oder vielmehr sie könnten es, wenn sie in angemessener, würdiger Gestalt dem Volke, oder besser, der Nation, in die Hände gegeben würden. Denn freilich ist es mit ihrem bloßen Inhalte, mit dem rohen Stoffe allein, nicht gethan; es soll nicht bloß eine müßige Neugier befriedigt oder eine augenblickliche Theilnahme erregt werden, sondern auch die Empfindung will geweckt und genährt und das Nachdenken selbst beschäftigt seyn. Erst wenn allen diesen Forderungen ein Genüge geschehen ist, wenn ein an und für sich Antheil erregender Gegenstand auch auf zweckmäßige Art dargestellt worden, wenn ihm ein unabhängiger Anfang und ein befriedigendes Ende, innere Vollständigkeit, Haltung, nothwendige Verknüpfung, Wahrheit, Reichthum, äußere Anmuth und Gefälligkeit, vor allen Dingen aber hinlängliche Klarheit ertheilt und der Reiz und Zauber der Sprache selbst darüber verbreitet worden ist, erst dann verdient ein poetisches Werk seinen Namen und tritt in seine schöne Wirksamkeit vollständig ein.

Daß nun auch den Volkssagen zu diesem Einflusse verholfen werde, ist das Geschäft der Dichter, denen daher diese schönen und anziehenden Stoffe nicht angelegentlich genug zur Behandlung empfohlen werden können. Möchten sie doch immer mehr auf jene, aus dem alltäglichen Leben und den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen der sogenannten gebildeten Stände hergenommenen, Gegenstände Verzicht leisten, durch welche nicht bloß die Poesie selbst herabgezogen und entwürdigt, sondern auch das oben gerügte Mißverhältniß in der Bildung der Nation immer mehr befördert und die Dauer der poetischen Werke selbst begreiflicher Weise äußerst beschränkt wird. Möchten sie dagegen, wie ihnen auch schon von großen Meistern das Beispiel gegeben ist, sich der Volkssagen zu ihren Erzählungen und Romanen, hauptsächlich aber zu der öffentlichsten Gestalt der Dichtkunst, zu Schauspielen und zu der wundersamen Gattung der Oper immer häufiger bedienen! Möchte dazu auch diese Sammlung, welche die Sagen und Volksmährchen der Deutschen den Liebhabern und Freunden derselben rein, einfach und ungeschmückt in die Hände zu geben bestimmt ist, das Ihrige beitragen, und so die wohlgemeinte Absicht des verdienten Herausgebers glücklich erreicht werden!

Ludolph Beckedorff.

Quellen: