Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen - Vorwort von Ludolph Beckedorff>>

Vorrede

Keiner europäischen Nation fehlt es an fabelhaften Erzählungen aus der Geschichte ihrer Vorzeit, welche unterm Volke einheimisch sind, ihm angehören, und daher mit Recht V o l k s s a g e n , V o l k s m ä h r c h e n genannt werden. Die Vorliebe für das Alterthümliche war es, welche sie aufbewahrte, vom Vater dem Sohne, und von diesem dem Enkel bis auf unsere Tage forterzählen ließ. Daß sie nicht bloß Spiele einer lebhaften Einbildungskraft sind, sondern gewöhnlich irgend einer Veranlassung ihre Entstehung danken, leidet keinen Zweifel. Spürt man dieser nach, so findet man sie oft in dieser oder jener historischen Handlung der ältesten Zeit.

Greifen sie mit dem Geiste der Vorzeit, oder mit den Handlungen mehrerer oder auch nur einzelner Menschen, in einander, so erhalten sie schon mehr Wichtigkeit. Finden sich aber auch historische Hinweisungen oder örtliche Ueberbleibsel, die damit zusammentreffen, und wo vielleicht eine sich auf die andere stützt, dann treten sie gewisser Maßen an die Stelle der Geschichte, und können dem Alterthumsforscher vielleicht zur Erläuterung und Aufhellung von Urkunden dienen.

Wer sie aber auch, da sie freilich immer die trübsten und ärmsten aller Quellen der Geschichte bleiben werden, als solche verwerfen wollte, der würde doch die in ihnen lebende reine Poesie, die natürliche, sie schmückende Einfalt, den treuen kindlichen Sinn, der überall aus ihnen hervorblickt, die in vielen verborgen liegende schöne Moral und eine religiöse Neigung für das Wunderbare als anziehend anerkennen und auch zugeben müssen, daß ihnen das Verdienst, Belege zur Charakteristik unserer Voreltern zu seyn, nicht abgesprochen werden könne.

Ist es daher keinem Zweifel unterworfen, daß Volksmährchen ihren Werth haben, so lohnt es auch wohl der Mühe, sie zu sammeln und sie als Erbstücke aus einer längst verschwundenen Ahnenzeit unsern Enkeln aufzubewahren. Dieß muß jedoch bald, es muß jetzt geschehen; denn die zugenommene Bildung eben der Klasse von Menschen, von der sie hauptsächlich festgehalten und fortgenommen wurden, hat leider schon bei ihnen eine Lauheit gegen diese lieblichen, einheimischen Mythen erzeugt, welche deren endliches Vergessen zur Folge haben wird. Es achtet nicht mehr so darauf, das Volk; und mit dem Heimgange des alten Mütterchens, das sie jetzt noch weiß, wird wohl die Kunde dahin seyn. Die Jugend hat jetzt andere Vergnügungen, und kehrt sich nicht mehr an die fabelhaften Erzählungen der Mütter; ja es hält schwer, selbst das Alter zur Erzählung solcher Sagen zu bringen, und nur durch Treuherzigkeit, nur durch eine unverstellte ernste Aufmerksamkeit darauf, vermag man es zur Mittheilung zu bewegen.

Zu den Nationen, welche solche Volksmährchen im Ueberflusse besitzen, gehört auch die deutsche. An ihren Burg- und Kloster-Ruinen, an den Gipfeln ihrer Berge, an ihren Flüssen, Quellen, Hainen, Felsen, Höhlen und Untiefen haften ihrer in Menge; und wem unter uns wäre wohl die Erinnerung des Zaubers erloschen, mit welchem diese Mährchen unser kindliches Gemüth ergriffen, wenn wir mit lauschendem Ohre und hingegebenem Staunen vor der Pflegerin standen, und jedes Wort auffaßten, daß ja keins verloren ginge, bis das grausende oder liebliche Ende der Sage uns ausrufen ließ: Noch ein Mal, noch ein Mal!

Diese unsere vaterländischen Mythen nun aufzubewahren, sie vor dem gänzlichen Vergessen zu sichern, beabsichtige ich durch die Herausgabe dieser Sammlung. Mein Plan ist, sie zu einer möglichst vollständigen zu erheben, und ich gedenke ihn durchzuführen, wenn ich, außer der Benutzung schon vorhandener ähnlicher Sammlungen und sonstiger mir zu Gebote stehender Hülfsmittel, so glücklich bin, Freunde für mein Unternehmen zu gewinnen, die mir vorzüglich solche Mährchen mittheilen, welche noch nirgends aufgefaßt wurden, und nur im Munde des Volks fortlebten. Finde ich diese, dann überlasse ich mich sehr gern der Hoffnung, eine Bibliothek der deutschen Volksmährchen entstehen zu sehen, die vielleicht für Deutschland dasselbe werden könnte, was L e g r a n d ' s Sammlung für Frankreich ist: eine Sammlung von historisch-romantischen Erzählungen nicht bloß zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern auch für den Menschenbeobachter und den philosophischen Geschichtsforscher. Daß hierbei manche Sage mit unterlaufen wird, die eben kein Dichtergeist belebt, die sich nicht durch charakteristische Züge auszeichnet, ist gewiß, aber bei dem mir vorgesteckten Ziele nicht wohl zu vermeiden.

Da jede Volkssage an Eigenthümlichkeit verlöre, und die wenigen historischen Goldkörner, die sie vielleicht besitzt, rein verflüchtigt würden, wenn man sie nicht in der Sprache des Volks, mit Vermeidung aller fremdartigen Zusätze und ohne eine willkürliche Ausdehnung, geben wollte, so müssen auch diese Rücksichten durchaus beachtet, und niemals verlassen werden. Sie sollen daher in der ihnen eignen schmucklosen Sprache und möglichst so, wie sie unterm Volke lauten, erzählt werden, und wer mir einen dankenswerthen Beitrag liefern will, den bitte ich, dieß nicht zu vernachlässigen. Durch fremdartige Zusätze, durch weiteres Ausdehnen, durch eine romantische Bearbeitung, würde die Erzählung vielleicht an Unterhaltung, aber nur auf Kosten der Originalität, gewinnen, und das wäre meiner Absicht und der guten Sache ganz entgegen.

Wie sehr ich auch überzeugt bin, daß echte Volkssagen, durch eine zweckmäßige Anordnung – sie sey nun auf die Zeitfolge oder auf die Oertlichkeit gegründet – für den Forscher an Werth gewinnen würde, und so gern ich diesen Forderungen entsprochen haben möchte, so stellen sich jedoch eine Menge von Hindernissen der Ausführung entgegen, die schwerlich ganz zu beseitigen seyn dürften. Die Entstehungsperiode eines Mährchens aufzufinden, gelingt höchst selten, und auch dann nur in so weit, daß man ungefähr das Jahrhundert, aus dem es hervorging, anzugeben vermag. Nur von denen, worin eine historisch bekannte Person auftritt, z.B. Kaiser Friedrich II., der in den Mährchen vom Kiffhäuser die Hauptrolle spielt, läßt sich mit etwas mehr Wahrscheinlichkeit dem Ursprunge näher kommen. Bei dem bei weitem größten Theile ist jede Nachforschung durchaus vergebens, und die Idee einer chronologischen Anordnung bleibt daher ein unausführbares Beginnen.

Mit weniger Hindernissen würde eine Anordnung nach Gegenden, nach Ländern verknüpft seyn, und wem es vergönnt wäre, alle die Gegenden, wo Volkssagen vorzüglich zu Haus sind, selbst, und in der Absicht zu ihrer Aufsammlung genau durchstreichen zu können, dem dürfte es vielleicht gelingen, sie alle aufzufinden; allein, wer kann das? Und wenn es Jemand könnte, so würde ihm doch wohl, selbst bei der größten Sorgfalt, manches Mährchen entschlüpfen. Wenn es nun auf diese Art nicht möglich ist, den Zweck der Vollständigkeit zu erreichen, so wird es auch durchaus auf keine andere möglich seyn. Für mich geht hieraus die Ueberzeugung hervor, daß eine chronologisch oder nach Länderbezirken geordnete vollständige Sammlung der deutschen Volksmährchen so lange noch ein unerreichbarer Wunsch bleiben wird, bis von vielen Seiten her zusammengetragen ist, und alsdann der künftige Freund unserer vaterländischen Volksdichtungen sie in chronologischer oder geographischer Form aufzustellen vermag. Ueberhaupt scheint es mir, als ob man den Volksmährchen einen größern historischen Werth beilege, als sie wirklich besitzen. Wer mit mir dieselbe Ansicht hat, und sie mehr von Seiten der Unterhaltung nimmt, der wird es daher weniger mißbilligen, wenn ich hier Mährchen, Sagen und Legenden gebe, ohne eine besondere Ordnung zu beobachten, und so wie ich sie auffinde und erhalte. Am Schlusse der Sammlung kann immer noch durch verschiedene Classificationen dem Wunsche derer entsprochen werden, welche mit dieser regellosen Aufstellung nicht zufrieden seyn möchten. Woher ich jedes Mährchen nahm, woher ich es erhielt, das werde ich immer eben so genau angeben, als wo es sonst schon erzählt, wo es vielleicht schon poetisch oder romantisch bearbeitet wurde.

Wer über die Bedeutung, über den Werth, über die Quellen und über die Veranlassung zur Entstehung der Volkssagen Aufschlüsse verlangt, den kann man mit Recht auf die gehaltvollen und durchdachten Abhandlungen verweisen, welche N a c h t i g a l in Halberstadt seinen »V o l k s s a g e n , n a c h e r z ä h l t v o n O t m a r « (Bremen 1800. 8.) vorangeschickt hat, und welche diese Gegenstände in ihrer Art ausführlich und ernsthaft behandeln.

Zugleich aber kann ich mir nicht versagen, hier auch den folgenden Bemerkungen noch einen Platz anzuweisen, welche mein geschätzter Freund, der Hofrath B e c k e d o r f f , als eine, hoffentlich nicht unwillkommene, Zugabe zu diesem ersten Bändchen, mir mitzutheilen die Güte gehabt hat.

Ballenstedt, den 18ten Oct. 1814.

F. G o t t s c h a l c k .

Quelle: