Niederlausitzer Volkssagen | Der Andreas >>


Berlin, Deutsche Schriftsteller-Genossenschaft, 1894

Herrn Professor Dr. Hugo Jentsch zu Guben in dankbarer Besinnung und freundschaftlicher Verehrung gewidmet.

Vorwort

Die Schrift, welche ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, ist eine Frucht langjähriger Sammelthätigkeit auf volkskundlichem Gebiete, zu der ich durch Wilib. von Schulenburgs vortreffliche Schriften zuerst angeregt worden bin, auf die aber auch die Gründung der Niederlausitzer Gesellschaft für Anthropologie und Altertumskunde nicht ohne Einfluß gewesen ist. Im Rahmen dieser Vereinigung bin ich Männer wie Professor Dr. Jentsch und Direktor Dr. Weineck nähergetreten, die nun beide, der erstere durch seinen Eifer, die Niederlausitz nach jeder Richtung hin wissenschaftlich zu durchforschen, der letztere besonders durch seine volkskundlichen Sammlungen, Vorträge und Veröffentlichungen, dafür gesorgt haben, daß das erwachte Interesse bei mir nicht erlahmte, sondern erstarkte.

Die im vorliegenden Bande zusammengestellten Sagen, von denen ein Bruchteil schon in den Niederlausitzer Mitteilungen (vgl. Bd. I S. 238 ff.; Bd. II, S. 121 ff.) abgedruckt worden ist, gehören nur dem nördlichen Gebiete der Niederlausitz, vornehmlich dem Stadt- und Landkreise Guben an. Das wird ein Fehler der Schrift nicht sein können (vgl. Grimm , Mythologies S. VIII.); denn wenn, wie hier durch mich geschehen, zwei der neun Kreise der Niederlausitz möglichst gründlich nach ihrem Sagenschatze abgesucht worden sind, so wird das durch der mythologischen Wissenschaft am meisten gedient, umso mehr, wenn es sich um ein Gebiet handelt, das von Sagenforschern noch unbeachtet geblieben war. Es darf das allerdings keineswegs so aufgefaßt werden , als ob in dem betreffenden Landesteile der Sagenborn nun auch vollständig ausgeschöpft worden wäre.

Ich hatte ursprünglich die Absicht, nur die Sagen des Gubener Kreises zusammenzustellen und dabei auch bereits gedruckt vorliegende Stoffe nicht auszuschließen, weil ich vorwiegend der Heimatskunde dienen wollte. Dieser mein Plan wurde indes später, um das vorliegende Werk umfangreicher und für Sagenforscher wertvoller zu gestalten, dahin erweitert, daß ich alle von mir in der Niederlausitz gesammelten Sagen aufgenommen habe. Auch in ihrer gegenwärtigen Gestalt wird meine Sagensammlung für den Stadt- und Landkreis Guben eine zur Zeit vollständige genannt werden können. Ferner hielt ich es für nützlich, einige Sagenstoffe aus der Umgegend von Triebel, welche der verstorbene Rektor Kurth in Berlin gesammelt und im Sonntagsblatt der „ Preußischen Lehrerzeitung “(Jahrg. 1882) veröffentlicht hat, diesem Buche einzuverleiben, weil diese Volksüberlieferungen in dem genannten Blatte wissenschaftlicher Verwertung bisher zu sehr entzogen waren.

Damit ist schon angedeutet, daß ich hoffe, meine Arbeit werden nicht bloß bei allen denjenigen meiner Landsleute, die dem Volkstum ihrer Heimat in Liebe zugethan sind, sondern auch bei den Mythologen Beachtung finden; ertönt doch aus den Reihen der letzteren der eindringliche Mahnruf, daß es jeßt, wo die großstädtischen Zeitungen immer mehr auch in die entlegensten Dörfer dringen und die Tagesneuigkeiten in wachsendem Maße das Interesse auch des Landbewohners in Anspruch nehmen, die höchste Zeit sei, alles zusammenzuraffen, was an alter Überlieferung noch im Gedächtnis des Volkes vorhanden ist. Daß übrigens der Sagenborn nur noch bei dem alten Geschlecht einigermaßen reichlich sprudelt, weiß jeder, der selbst gesammelt hat.

„Bald schon wird uns öde Leere entgegenstarren – ein totes Nichts, wo augenblicklich, auch in elfter Stunde noch, reiche Ernte heimgebracht sein möge,„ sagt der fleißigste und dunkle Fragen am meisten durch dringenden Sammler einer, Prof. Dr. Adolf Bastian (Die Verbleibsorte der abgeschiedenen Seele, Berlin 1893).

Obwohl ich den Namen einer wissenschaftlichen Arbeit für meine Veröffentlichung nicht in Anspruch nehme, so habe ich mich doch beidem Sammeln und Zusammenstellen der Sagen derjenigen Gewissenhaftigkeit befleißigt, welche die Wissenschaft fordern muß. Stets bin ich der Worte Jakob Grimms (Mythologies S. XII) eingedenk gewesen, daß die Volkssage „mit keuscher Hand gelesen und gebrochen“ sein will, sollen sich ihre „Blätter“ nicht „krümmen“ und soll sie uns nicht„ ihren eigensten Duft vorenthalten.“ Die von mir mit der Bezeichnung „mündlich“ versehenen Sagen entstammen, wenn nichts Abweichendes angegeben ist, den unteren Schichten der Bevölkerung, in denen sich der Quell der Überlieferung am ungetrübtesten erhalten hat; den in den letzten Jahren gesammelten Stoffen wurde gewöhnlich der Gewährsmann beigefügt. Dem Inhalte nach sind die Volksüberlieferungen ohne Ausnahme unangetastet geblieben und auch hinsichtlich der Form ist nicht mehr geändert worden, als die Sprachrichtigkeit erforderte; soweit irgend thunlich, wurde Gleichartiges oder ähnliches an einander gereiht, um dadurch die wissenschaftliche Benutzung der Sammlung zu erleichtern. Gleichem Zwecke sollen auch die beigefügten Orts- und Sachregister dienen.

In einem Anhange finden sich Hinweise auf Parallelen zu den einzelnen Sagen. Obwohl hierin bei der umfangreichen Sagenlitteratur Vollständigkeit nicht erzielt werden konnte, war es mir doch ein Bedürfnis, die Seitenstücke aus andern Gegenden, wie sie mir bei der Lektüre verschiedener Sagenbücher jetzt oder früher entgegengetreten waren, anzuführen. Dem Forscher dürften sie immerhin dankenswert erscheinen, und dem Laien mögen sie in die Verbreitung gewisser Sagenstoffe einen Ausblick gewähren. Die kurzen Fingerzeige für die mythologische Deutung verschiedener Überlieferungen sind nicht für den Fachgelehrten, sondern für den gebildeten Leser berechnet, der der mythologischen Wissenschaft zwar fern steht, dem Volkstum aber und einer tieferen Betrachtung desselben Interesse entgegenbringt. Die Parallelen, welche den einzelnen Sagen im Anfang beigefügt sind, dürften auch erkennen lassen, daß der nördliche Teil der Niederlausitz, obwohl vormals slavischer Boden, einen eigenartigen Sagenschatz nicht hat. Mit Ausnahme etwa der Sage von der Mittagsfrau, der wendischen Pschesponiza (Nr. 115), welche aus Amtitz noch gewonnen wurde, ist der Inhalt der vorliegenden Sagen derselbe, wie in Gegenden mit unvermischt deutscher Bevölkerung westlich der Elbe: oft ist die Ähnlichkeit eine geradezu auffallende. Man sollte das nicht erwarten, und die Thatsache wird schwer erklärlich.

Daß die Sagenstoffe nach der Regermanisation von den Deutschen auf die Slaven übergegangen sein sollten, ist bei dem feindseligen Verhältnis, das zwischen den beiden Völkern offenbar obgewaltet hat, nicht anzunehmen. Nun ist zwar der Gedanke, daß das Land ostwärts der Elbe von den Slaven nach der Völkerwanderung nicht vollständig besiedelt worden, sondern Bruchteile germanischer Stämme zurückgeblieben wären, schon seit dem 16. Jahrhundert aufgetaucht. Er wurde von Giesebrecht und Platner verfochten, fand freilich auch Widerspruch. Erst in neuerer Zeit hat einer der angesehensten Mythologen der Gegenwart, Professor Dr. Wilhelm Schwartz, in seiner Schrift: „Zur Stammbevölkerungsfrage der Mark Brandenburg, Berlin 1887“ aus Gründen, die vornehmlich in der niederen Mythologie gefunden wurden, darauf hingewiesen, daß in der Mittelmark, in Mecklenburg und einem Teile Pommerns Gruppen einer gewissermaßen ostsächsischen Bevölkerung in einer Art Hörigkeit die Wendenherrschaft ihrer Zeit überdauert und beim Zusammenbruch derselben der unter christlichem Banner eintretenden Germanisierung und den sich daran schließenden Kolonisationen entgegen gekommen.“

Allein die in der genannten Schrift enthaltenen, der Volksmythologie entnommenen Gründe treffen auf die Niederlausitz nicht ohne weiteres zu, wie ich denn überhaupt glaube, daß eine indogermanische Urverwandtschaft, die sich im Sagenstoff der europäischen Völker kund thut, vor dringendem deutschen Volkstum im Slavenlande am meisten entgegengekommen ist. Uebrigens dürfte die Frage besonderer Untersuchung wert sein, wie weit in den Volksüberlieferungen unserer längst germanisierten Gegenden noch ausgeprägt slavische Nachklänge erkannt werden können. Allen denjenigen, die mich bei dem Herbeischaffen des vorliegenden Stoffes unterstützt haben, sage ich hier noch einmal innigen Dank, ganz besonders fühle ich mich verpflichtet Herrn Pastor Böttcher in Nieder-Jeser, der mir das unter Nr. 267 und 268 Mitgeteilte übersandt hat, sowie Herrn Pfarramtskandidat L. E. Clausnißer in Berlin, der mir nicht nur die aus dem Munde seiner Urahne in Groß-Breesen geschöpften Sagen zur Verfügung stellte, sondern mir auch das, was sein Schwager, der obengenannte Rektor Aurth, Volkstümliches aus dem Kreise Sorau veröffentlicht hat, zur Benutzung übergab. Gleichen Dank für freundliche Mitteilungen schulde ich meinen Herren Kollegen Balack - Guben, Becker - Luckau und Hanschke Berlin, sowie dessen braven Eltern in Ögeln, welch letztere Volksüberlieferungen mannigfaltiger Art mit großer Treue bewahrt haben.

Da ich weiß, daß Mitteilungen, die dem Sammler erst durch gebildete Mittelspersonen zugehen, in den Augen der Mythologen als minderwertig gelten, so mache ich darauf aufmerksam, daß von den nachstehend zusammengestellten 339 Sagen 279 unmittelbar dem Volksmunde entnommen sind; 313 gehören der Niederlausitz an; es wird daher der Titel „Niederlausitzer Volkssagen“ gerechtfertigt erscheinen, obwohl die Grenzen jener Landschaft zuweilen um ein geringes überschritten sind. Historische, Lokal- und Namensagen, die der Wissenschaft nur geringen Nutzen gewähren, treten in der vorliegenden Schrift nur in beschränkter Zahl auf; die Rücksicht auf das Interesse, welches ihnen in ihrer Heimat naturgemäß entgegengebracht wird, gebot mir, sie nicht auszuschließen. So mag denn dieses Buch seinen Weg gehen und freundliche Aufnahme finden bei den Männern der Wissenschaft, welche aus dem schlichten Sagenstrauße, den ich biete, vielleicht doch einzelne Blumen herausziehen werden, die sie bei ihren Forschungen verwerten können.

Möchte mein Werk aber auch die Anerkennung weiterer Kreise in der Landschaft gewinnen, für die es vorzugsweise bestimmt ist. Es soll vornehmlich demjenigen, der mit Liebe an der ererbten Scholle hängt, auf dem sein Vaterhaus steht, einen Gruß bringen aus seiner glücklichen Jugendzeit, einen Gruß seiner bereits heimgegangenen Ahnen, denen er als Kind gelauscht hat, einen Gruß der heimischen Flur. Mir selbst gereicht es zu freudiger Genugthuung, daß es mir möglich wurde, ein Blatt nach dem andern zu einem Kranze schlichter Volkspoesie zusammenzutragen, der nun dauernd den Boden schmücken soll, dem ich selbst entstamme. Vielleicht empfindet mancher der Leser die Freude nach, die ich empfunden habe, wenn ich unvermutet eine neue Sage entdeckte. Jedenfalls darf ich sicher sein, daß die Liebe zur Heimat, welche die Grundlage der Vaterlandsliebe ist, durch meine Arbeit gestärkt wird, und aus diesem Grunde werden Eltern auch ihren Kindern das vorliegende Buch nicht nur ohne Bedenken, sondern mit Nutzen in die Hand geben können; denn ist es auch nicht für sie geschrieben und keine Sage ihnen zu Liebe umgemodelt oder schmackhafter gemacht, so sind andererseits doch auch Ueberlieferungen mit anstößigem Inhalt in der Sammlung nicht enthalten. Die Sagen, welche den Hexen- und Drachenglauben, der leider noch heute zuweilen auf den Dörfern den nachbarlichen Frieden stört, sowie den Alp- und Gespensterglauben betreffen, werden durch dieses Buch am ersten als dasjenige erkannt werden, was sie wirklich sind: von den Vätern ererbte Dichtungen der Volksphantasie.

Guben, im September 1894.

Karl Gander